Euphorie ist vorbei
Warum der Tech-Boom im Züri Valley schwächelt

Mit der Ansiedlung der US-Firma wurde Zürich zum Tech-Standort. Auf die Euphorie der ersten Jahre folgte der Kater.
Publiziert: 03.11.2024 um 12:16 Uhr
Attraktiver Google-Campus: An der Europaallee gibt es für die Mitarbeiter alles, was das Herz begehrt.
Foto: Google Zürich

Auf einen Blick

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Anne-Barbara Luft
Bilanz

Den Kaffee trinkt sie schwarz. Auch das Auftreten von Christine Antlanger-Winter ist schnörkellos: dunkelblauer Anzug, wenig Schmuck, Kurzhaarschnitt – sogar ihr österreichischer Akzent ist sehr dezent. Im Sitzungszimmer mit Blick auf die Gleise des Zürcher Hauptbahnhofs spricht die Länderchefin von Google Schweiz über die Chancen künstlicher Intelligenz (KI), die Zusammenarbeit mit der ETH und gute Nachbarschaft.

In diesem Jahr feiert Google das 20-Jahr-Jubiläum des Standorts Zürich. Im Schlepptau des Tech-Giganten kamen die IT-Nerds in die Stadt der Banker. Grosse Softwarefirmen siedelten sich an, eine fruchtbare Start-up-Szene entstand. Doch die Euphorie der ersten Jahre hat Risse im Lack bekommen. Entlassungen, ein Spardiktat aus der Konzernzentrale in Kalifornien und die Angst, beim Megathema KI ins Hintertreffen zu geraten, dämpfen die Stimmung bei Google. Antlanger-Winter kann es gelingen, den Standort Zürich mit heute 5000 Mitarbeitern auf Wachstumskurs zu halten. Sie besitzt das Technologie-Know-how, ein gutes Netzwerk und setzt auf die richtigen Themen.

Artikel aus der «Bilanz»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Bilanz» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter bilanz.ch.

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Von Wien nach Zürich: Seit 2022 ist Christine Antlanger-Winter Chefin von Google Schweiz.
Foto: Suse Heinz für BILANZ

So fing alles an: Bei James Heim, Zürcher Standortförderer in San Francisco, klingelt das Telefon. Google möchte einen Forschungs- und Entwicklungs-Hub in Europa aufbauen, und Zürich ist mit im Rennen. Von da an setzt ein Team aus Standortförderung, Beratungsfirmen, Hochschulen und allen voran Google-Urgestein Urs Hölzle alles daran, das noch junge Technologieunternehmen an die Limmat zu locken. Für den ETH-Absolventen Hölzle ist Zürich mit der exzellenten technischen Hochschule in der Mitte von Europa der ideale Standort. Zu den Google-Gründern Larry Page und Sergey Brin hat er einen engen Draht. Der Baselbieter hat die beiden während seines Ph.D.-Studiums an der Stanford University kennengelernt und ist als Mitarbeiter Nummer acht ein Googler der ersten Stunde.

Als sich Google schliesslich für Zürich entscheidet, wird eine Entwicklung angestossen, die damals niemand erahnt. «Diese Aufbruchstimmung, die mit Google in die Stadt kam, war wahnsinnig inspirierend und motivierend. Nicht nur für Zürich, sondern für den ganzen Wirtschaftsstandort», erinnert sich Sonja Wollkopf Walt, als Geschäftsführerin der Standortmarketingorganisation Greater Zurich Area eine der Strippenzieher. Im ersten Google-Büro am Limmatquai arbeiten zwei Personen. Wollkopf Walt packt mit an: das Sofa, das die Google-Mitarbeiter im Brockenhaus kaufen, tragen sie und ihre Mitarbeitenden in den dritten Stock. Sie holt die unterschiedlichsten Stakeholder an Bord – wie etwa die damalige Swissair, die von nun an einen Direktflug nach San Francisco anbietet.

Im Einsatz für den Standort: Sonja Wollkopf Walt, Geschäftsführerin von Greater Zurich Area, fädelte die Ansiedlung von Google in Zürich vor 20 Jahren mit ein.
Foto: Urs Jaudas / Tages-Anzeiger

Techies statt Banker

«Google hat von Beginn an viel bewirkt», sagt Wollkopf Walt, «plötzlich nahm man Zürich nicht mehr als reinen Finanzplatz wahr, sondern auch als Forschungs- und Entwicklungsstandort.» Schon bald schlagen weitere Technologiefirmen hier ihre Lager auf, von den Grossen kommen Disney Research, Oracle, Microsoft, Oculus und Meta. Zürich wird zur Schmiede und zum Anziehungsort für Talente aus der Tech-Szene. Zwar spielen die technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne eine wichtige Rolle, doch den riesigen Personalbedarf, den das schnell wachsende Tech-Unternehmen hat, kann nur zum Teil mit Absolventen von ETH und EPFL gedeckt werden. Google rekrutiert daher Mitarbeiter aus ganz Europa und stösst ans nächste Limit: Arbeitsbewilligungen sind kontingentiert, und nicht jeder Top-Kandidat darf in die Schweiz kommen.

In den ersten vier Jahren wächst das Team der Zoogler, wie Zürcher Googler nun heissen, trotzdem auf 400 an. Die Büros platzen aus allen Nähten. 2008 folgt daher der Umzug aufs Hürlimann-Areal – Google baut die Gebäude komplett um und setzt neue Standards für die Arbeitswelt. «Google hat diese Philosophie, dass Arbeiten ein bisschen wie ein Spiel sein soll», beschreibt Thomas Dübendorfer, der zu den ersten Mitarbeitern bei Google in Zürich zählt, die besondere Atmosphäre. Räume zum Ausruhen, Massagen, kostenloses Essen gehören ebenso zum Wohlfühlpaket wie das TGIF-Event (Thank Goodness It’s Friday) mit Apéro. Zu grösseren Veranstaltungen werden auch die Familien eingeladen. «Das gab es bis dahin nicht in Zürich», erinnert sich Dübendorfer. Andere Arbeitgeber kommen unter Druck und ahmen das Google-Modell nach. Es melden sich erste Kritiker: Google würde alle Tech-Talente vom Markt räumen. Dübendorfer sieht das völlig anders: «Google hat Top-Leute aus ganz Europa in die Schweiz geholt, die nach einigen Jahren zu anderen Firmen gegangen sind.» So habe Google Vorarbeit für Firmen geleistet, die weniger Anziehungskraft haben.

Pionier der Startup-Szene: Serien-Entrepreneur und Business Angel Thomas Dübendorfer zählt zu den Zooglern der ersten Stunde.
Foto: Samuel Trümpy

Grösster Forschungs-Hub

Auch am neuen Google-Campus an der Europaallee gibt es für die Mitarbeiter alles, was das Herz begehrt. Kurz nach der Eröffnung im Sommer 2022 übernimmt Christine Antlanger-Winter den Posten als Länderchefin. «Zürich ist einer der grössten Forschungs- und Entwicklungsstandorte von Google ausserhalb der USA. Das hat mich natürlich sehr gereizt – auch wegen meiner Technologieaffinität», sagt Antlanger-Winter, die Medientechnik und -design studiert hat. Sie lebt mit ihrer Familie in Zürich und schätzt an ihrer Wahlheimat die kurzen Wege, die Vielseitigkeit und die Nähe zur Natur. Bei schönem Wetter geht sie zu Fuss zur Arbeit. Wenn sie trotzdem das Heimweh überkommt, besucht sie ihre Eltern in Oberösterreich. «Ich finde es wichtig, dass meine Kinder Zeit mit den Grosseltern verbringen und diese bodenständige und offene Kultur kennenlernen», sagt sie.

Ein attraktiver Campus wie an der Europaallee wirkt wie eine Bubble und erschwert die Integration der Zoogler in die Stadt. Antlanger-Winter lockt die Techies daher aus ihren Büros und bindet sie in die Nachbarschaftshilfe ein, beispielsweise im Digi-Kafi. Vor allem ältere Menschen können dort Google-Mitarbeitern Fragen rund um das Thema IT stellen. Ein Klassiker: «Ich habe ein Tablet geschenkt bekommen und weiss nicht, wie ich damit umgehen soll.»

Nach dem Studium startete Antlanger-Winter bei einer Media-Agentur in Wien, wurde Spezialistin für digitales Marketing, schon mit Mitte 20 übernahm sie Führungsaufgaben, acht Jahre später den CEO-Posten. An Google Schweiz gefällt ihr die Vielseitigkeit: «Wir nennen das manchmal ‹Google miniatur›, weil wir aus ganz vielen Produkt- und Unternehmensbereichen Teams haben. Die stehen im Austausch mit weltweit führenden Technologie-Expertinnen aus Bereichen von AI bis Cybersecurity.» In Zürich wird an der Entwicklung von weltweit bekannten Produkten wie der Google-Suche, YouTube, Google Maps, den Google-Cloud-Diensten und auch KI-Produkten wie Gemini gearbeitet.

Zwar ist Google einer der Vorreiter der KI-Entwicklung, doch im jüngsten Wettrennen wurde der Pionier von Microsoft und OpenAI abgehängt. Im Headquarter in Kalifornien herrscht angeblich Panik, weiter ins Hintertreffen zu geraten. Antlanger-Winter setzt daher auf einen bewährten Partner: Im März besiegelte sie die Zusammenarbeit mit dem ETH AI Center, einer Initiative von Joël Mesot. Als neuer Präsident der ETH besuchte dieser 2019 die verschiedenen Abteilungen. «Als Physiker kannte ich manche Departemente nicht gut.» Ihm fiel auf, dass es ein Gebiet gibt, das in allen 16 Departementen eine grosse Rolle spielt: die konsequente Nutzung künstlicher Intelligenz für die Forschung. Die Schulleitung entschied daher, die Kräfte zu bündeln und die grosse KI-Expertise sichtbarer zu machen. Das Ergebnis war das ETH AI Center, an dem heute multidisziplinär gearbeitet wird.

Partners in Technology: ETH-Präsident Joël Mesot setzt auf die bewährte Zusammenarbeit mit Technologiekonzernen.
Foto: Keystone

Sprungbrett für Start-ups

«Google hat dazu beigetragen, den Ruf der Schweiz und Zürichs als eine Art weltweites Exzellenzzentrum für Technik, insbesondere für Software-Engineering, zu festigen», meint Jasmine Kent, ehemalige Google-Mitarbeiterin und Co-Gründerin von Dufour Aerospace, die elektrisch angetriebene Senkrechtstarter für den Patienten- und Personentransport entwickelt. Kent ist eine von über 100 Ex-Google-Mitarbeitenden, die in der Schweiz ein Start-up gegründet haben. Bei Google begann Kent, eine unternehmerische Denkweise zu entwickeln. «Mir wurde klar, dass ich neben der Softwaretechnik auch etwas über Führung und Finanzen lernen musste», sagt sie. Daher belegte sie bei Google Kurse zu diesen Themen. Schon der erste Angestellte von Google in der Schweiz, Tom Hanan, kündigte nach vier Jahren seinen Posten als Verkaufschef, um die Agentur Webrepublic zu gründen.

Chance ergriffen: Die Co-Gründerin von Dufour Aerospace, Jasmine Kent, entwickelte bei Google ihr unternehmerisches Mindset.
Foto: ZVG

Einen ähnlichen Weg schlug Thomas Dübendorfer ein. Er leitete bei Google ein Team, das Lösungen für Betrugsschutz von Online-Werbesystemen entwickelt. «Es war fast wie ein Forschungsauftrag», erinnert er sich. Der Grossteil seines Teams hatte wie er in Informatik promoviert oder kam direkt aus der universitären Forschung. 2013 verliess er Google. Seither hat er neun Start-ups mitgegründet, zahlreiche verkauft und investiert als Angel-Investor in den Technologiesektor. Vor zehn Jahren gründete er den Investorenclub SICTIC.

Diktat aus Mountain View

Die Bedeutung von Zürich als Forschungsstandort ist unbestritten, doch alle strategischen Entscheidungen werden in Kalifornien gefällt – und zwar bis auf ein Niveau, das man als Mikromanagement bezeichnen muss. Das bekommen die Schweizer Googler im vergangenen Jahr zu spüren: Von Investorenseite wird, mit Blick auf Profitabilität und Aktienkurs, mehr Kostendisziplin gefordert. Die Löhne seien zu hoch, es müssten Stellen in grossem Stil abgebaut werden. Meta, Amazon und Microsoft machen vor, wie man mit tieferen Lohnkosten schnell profitabler wird. Konzernweit streicht Google 12'000 Stellen, in Zürich sind es 500. Wen es trifft, wird nicht an der Europaallee entschieden, sondern im fast 8000 Kilometer entfernten Mountain View. Die Entlassungen kommen per Mail, Vorgesetzte erfahren teilweise erst am selben Tag, wer ihr Team verlassen muss. Unter den gefeuerten Mitarbeitern sind auch schwangere Kolleginnen – so etwas wissen die Unternehmensberater in Kalifornien natürlich nicht.

Auf Begründungen für die Entlassung warten die Betroffenen vergeblich. Es wird spekuliert, dass altgediente Googler mit hohen Löhnen weit oben auf den Dismissal-Listen stehen. Bestätigt wird dies nicht. Entsprechend gross sind Unverständnis und Enttäuschung. Auch Thomas Dübendorfer hat das Vorgehen überrascht: «Google hat ein Stück weit seine Seele verloren, seit Larry Page und Sergey Brin an anderen Projekten sind.» Sundar Pichai, seit 2019 CEO von Google und dem Mutterkonzern Alphabet, gilt als finanzgetrieben. Zahlen seien ihm wichtiger als die Mitarbeiter, heisst es. «Page und Brin wollten eine Firma aufbauen, bei der sie selber am liebsten arbeiten würden. Dieses Denken ist in den letzten Jahren abhandengekommen», fügt Dübendorfer hinzu.

Die Macht der Länderchefs wurde zuletzt immer mehr beschnitten. Antlanger-Winter mag eine Königin mit kleiner Krone sein, trotzdem setzt sie ihre Duftmarke. So engagiert sie sich mit verschiedenen Projekten erfolgreich für eines ihrer Herzensthemen: mehr Frauen für IT-Berufe zu begeistern. Hier zieht sie mit ETH-Präsident Mesot an einem Strang. Im vergangenen Jahr wurden an der ETH über 50 Prozent neue Professorinnen berufen, das soll auch in diesem Jahr wieder erreicht werden. «Natürlich braucht es ein bisschen mehr Zeit, aber wir wissen, dass Professorinnen mehr Studentinnen anziehen», erklärt Mesot. Auch sind Frauen wie Antlanger-Winter wichtige Vorbilder.

Höhere Lohn- und Energiekosten belasten die Tech-Konzerne – der Druck vonseiten der Investoren wächst. Neue Entlassungswellen rollen an. Wie geht es weiter im Züri Valley? «Vermutlich haben wir einen ersten Peak erreicht», sagt Wollkopf Walt. «Google wird in Zürich weiterwachsen, aber nicht so schnell wie bisher», meint auch Ex-Googler Dübendorfer. Dank der Forschung an AI oder Computer Vision werde der Standort auch in Zukunft eine grosse Bedeutung haben.

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