Einigung auf tragfähige Regierungsmehrheit in Frankreich nicht in Sicht
Zwei Tage nach der Parlamentswahl in Frankreich scheint eine Einigung auf eine regierungsfähige Mehrheit nach wie vor in weiter Ferne. Sowohl aus dem links-gründen Bündnis Neue Volksfront als auch aus dem bisherigen Regierungslager von Präsident Emmanuel Macron gab es am Dienstag skeptische Stimmen hinsichtlich einer möglichen Zusammenarbeit.
Mehrere linke Politiker warnten vor einem Zusammengehen mit dem Regierungslager: «Sie müssen Verantwortung übernehmen, also für uns stimmen», sagte der Linkspopulist Manuel Bompard an die Abgeordneten des Linksbündnisses gewandt in Paris. Auch die Grünen-Abgeordnete Sandrine Bompard verwarf mögliche Koalitionspläne: «Ich will nicht in einer Regierung sein, an der Macrons Leute beteiligt sind», sagte sie.
Die Abgeordneten der Neuen Volksfront fanden sich am Vormittag erstmals in der Nationalversammlung zusammen. Obwohl sie sich vor der Wahl auf ein gemeinsames Programm und gemeinsame Kandidaten geeinigt hatten, trafen die Mandatsträger der beteiligten Parteien zu jeweils anderen Uhrzeiten ein und machten gesonderte Gruppenfotos.
Bis Ende der Woche will sich die Neue Volksfront auf einen Kandidaten für das Amt des Premierministers einigen. «Ich bin dazu bereit», sagte der Sozialistenchef Olivier Faure am Dienstag. Er wolle sich aber mit den anderen beteiligten Parteien abstimmen. Ausser Faure ist auch der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon und die Grünen-Chefin Marine Tondelier im Gespräch.
Das Regierungslager zeigte sich skeptisch. «Ich will nicht die Regierungskompetenz der republikanischen Linken bestreiten. Aber wenn hundert Sitze bis zur Mehrheit fehlen, muss man realistisch sein», schrieb Aussenminister Stéphane Séjourné in einem Meinungsbeitrag für «Le Monde». Er setze in der Nationalversammlung künftig vielmehr auf punktuelle «Mehrheiten für Projekte» - ohne die Beteiligung der Linkspopulisten
Frankreichs Premierminister Attal bleibt «vorerst» im Amt
Frankreichs Premierminister Gabriel Attal bleibt ungeachtet der Wahlschlappe des Regierungslagers bei der Parlamentswahl vorerst weiter im Amt. Präsident Emmanuel Macron habe Attals Rücktrittsgesuch «vorerst» abgelehnt und ihn gebeten, im Amt zu bleiben, um «die Stabilität des Landes zu wahren», hiess es am Montag im Elysée. Es wird damit gerechnet, dass Macron die komplizierte Regierungsbildung bis auf die Zeit nach den Olympischen Spielen verschiebt.
Aus der zweiten Runde der Parlamentswahl ist das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront mit etwa 180 Sitzen überraschend als Sieger hervorgegangen. Das Regierungslager verlor seine bisherige Mehrheit und rutschte von 250 auf etwa 160 Sitze ab. Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN), die nach Umfragen mit einer Mehrheit hätte rechnen können, kam mit etwa 140 Plätzen auf Platz drei.
Damit hat keines der drei Lager eine regierungsfähige Mehrheit erreicht. Für eine absolute Mehrheit sind 289 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung nötig.
Obwohl alle Wahlkreise ausgezählt sind, sind die Zahlen nicht eindeutig, da viele Kandidaten zu Kleinstparteien gehörten und die Zuordnung zu den Lagern nicht immer eindeutig ist. Bis zum 18. Juli müssen sich die Fraktionen bilden, für die sich jeweils mindestens 15 Abgeordnete zusammenschließen. Diese entsprechen nicht unbedingt den Bündnissen vor der Wahl. Die Neue Volksfront dürfte sich – wie das Vorgängerbündnis Nupes - in mehrere Fraktionen aufspalten.
Das Linksbündnis und die Suche nach dem Premier
Das neue Linksbündnis in Frankreich will sich nach seinem Sieg bei der vorgezogenen Parlamentswahl auf einen Kandidaten für das Amt des Premierministers verständigen. Das aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und der Linkspartei bestehende Bündnis war ohne Spitzenkandidaten in die von Präsident Emmanuel Macron (46) kurzfristig angesetzte Wahl gegangen, die es in der zweiten Wahlrunde am Sonntag für sich entschied. Einen Favoriten für das Amt des Regierungschefs, der von Macron ernannt werden muss, hat das Bündnis noch nicht.
«Wir müssen innerhalb einer Woche in der Lage sein, eine Kandidatur» für das Amt des Premierministers zu präsentieren, sagte Sozialistenchef Olivier Faure (55) dem Sender Franceinfo. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass das Linksbündnis nicht in der Lage sei, zu regieren. Über einen Kandidaten für das Amt des Premiers müsse in dieser Woche entschieden werden, entweder im Konsens oder über eine Abstimmung in den zum Linksbündnis gehörenden Parteien.
Die bisherige Fraktionschefin von Frankreichs Linkspartei, Mathilde Panot (35), sagte dem Sender RTL, dass das Linksbündnis in dieser Woche einen Premierminister und eine Regierung präsentieren werde. Der wegen seines polemischen Auftretens umstrittene Gründer der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon (72), ist aus Panots Sicht dabei weiterhin im Rennen. Mélenchon habe der Linken erst wieder das Siegen beigebracht und habe die Formierung eines Linksbündnisses vor der Parlamentswahl 2022 und auch jetzt erst möglich gemacht.
Ausschreitungen bei Demos nach Wahl in Frankreich
Bei Kundgebungen nach der Parlamentswahl in Frankreich ist es in Paris und anderen Städten zu schweren Ausschreitungen und Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. In Paris versammelten sich Tausende Menschen auf dem Place de la République im Zentrum der Hauptstadt, um den Sieg des Linksbündnisses bei der vorgezogenen Wahl zu feiern. Dabei geriet ein Teil der Demonstranten nach Medienberichten mit den Ordnungskräften aneinander, die daraufhin Tränengas einsetzen. Barrikaden aus Holz wurden in Brand gesetzt.
Im Zentrum von Paris hatten etliche Geschäfte und Banken ihre Fenster am Wahltag mit Blick auf befürchtete Ausschreitungen mit Holzplatten gesichert. Innenminister Gérald Darmanin hatte für den Wahltag 30'000 Beamte mobilisiert, um mögliche Krawalle zu verhindern. 5000 von ihnen sollten alleine in Paris und den Vororten im Einsatz sein.
«Alle hassen die Polizei»
Auch aus Lille in Nordfrankreich wurden Zusammenstösse zwischen Antifaschisten und der Polizei gemeldet. Hier ging die Polizei ebenfalls mit Tränengas gegen die Menschen vor. Im westfranzösischen Rennes gab es nach Medienberichten 25 Festnahmen, nachdem die Bereitschaftspolizei mit Tränengas gegen linke Demonstranten vorgegangen war, die unter anderem «Alle hassen die Polizei» skandiert hatten. In Nantes wurde ein Polizist nach einem Bericht der örtlichen Zeitung durch den Wurf eines Molotowcocktails verletzt. Demonstranten warfen Feuerwerkskörper auf die Sicherheitskräfte, die ihrerseits Tränengas einsetzen.
In Frankreichs zweitgrösster Stadt Marseille kamen ebenfalls sehr viele Menschen zur Feier des Wahlsiegs der Linken im Stadtzentrum zusammen. Die Polizei hielt sich zunächst zurück, während die Demonstranten Slogans gegen rechtslastige Medien riefen.
Le Pen nach Frankreichwahl: «Unser Sieg ist nur aufgeschoben»
Trotz des überraschenden Erfolgs des Linksbündnisses bei den französischen Parlamentswahlen gibt sich Marine Le Pen vom rechtsnationalen Rassemblement National (RN) gelassen. «Die Flut steigt weiter und unser Sieg ist heute nur aufgeschoben», sagte sie nach den ersten Hochrechnungen. Sie sei mit ihrer Partei auf dem Vormarsch gegen eine Koalition aller Bewegungen.
RN hat deutlich zugelegt
Nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche sahen Prognosen das RN noch knapp unter der absoluten Mehrheit und damit möglicherweise in der Lage, die nächste Regierung zu stellen. Nun könnten sie nur drittstärkste Kraft hinter dem Linksbündnis und dem Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron werden. Deutlich zugelegt hat das RN im Vergleich zur vorherigen Nationalversammlung dennoch.
Premierminister Gabriel Attal wird am Montag seinen Rücktritt einreichen
Frankreichs Premierminister Gabriel Attal wird am Montagmorgen seinen Rücktritt einreichen.
«Premierministerzu sein ist die Ehre meines Lebens» sagte Attal an die Adresse der Franzosen und stellte fest, dass das zentristische Lager keine Mehrheit erhalten hatte. «So werde ich morgen früh getreu der republikanischen Tradition und gemäss meinen Grundsätzen dem Präsidenten der Republik meinen Rücktritt einreichen.»
Trotzdem betonte Attal, dass er seine Aufgaben so lange wahrnehmen würde, wie es die Pflicht erfordere. Nur kurz zuvor hatte der Elysée-Palast mitgeteilt, dass Emmanuel Macron die «Strukturierung» der neuen Versammlung abwarten werde, um «die notwendigen Entscheidungen zu treffen».
Macron kann Attal und die Regierung bitten, für die laufenden Geschäfte zunächst kommissarisch im Amt zu bleiben, bis die Mehrheit für eine neue Regierung steht. Auch mit Blick auf die Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris beginnen, kann es sein, dass die Regierung von Attal noch einige Wochen im Amt bleibt.
Macron hatte Attal im Januar zum Premierminister ernannt. Mit 34 Jahren wurde er der jüngste Premierminister in der jüngeren französischen Geschichte. Attal galt zwar als recht beliebt und hatte den Ruf, auch mit Vertretern anderer politischer Lager in der Sache diskutieren zu können. Dennoch konnte er die französische Regierung, die im Parlament unter Druck stand, nicht aus ihrer misslichen Lage befreien. Attal führte auch den Wahlkampf für die Parlamentswahl an.
Auschwitz Komitee zur Frankreich-Wahl: «Ungeheure Erleichterung»
Nach dem Überraschungserfolg des Linksbündnisses bei der Parlamentswahl in Frankreich atmet das Internationale Auschwitz-Komitee auf.
«Diese Wahlprognose ist für viele Menschen in Frankreich und vielen anderen Ländern eine ungeheure Erleichterung und ein ermutigendes Signal für Europa: Die Brandmauer der Demokratie gegenüber der extremen Rechten steht», erklärte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner in Berlin.
«Die Werte der Republik und ihre Erinnerungen und Erfahrungen aus den dunkelsten Zeiten von Hass, Ausgrenzung und Krieg sind mobilisierbar und in den Herzen und Köpfen der Menschen gegenwärtig», so Heubner.
Bei der Parlamentswahl liegt ersten Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis überraschend vorn, das rechtsnationale Rassemblement National könnte nur auf dem dritten Platz landen.
Macron ruft zur Zurückhaltung beim Deuten der Prognosen zur Parlamentswahl auf
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat angesichts der ersten Prognosen nach der zweiten Runde der Parlamentswahl zur Zurückhaltung bei deren Interpretation aufgerufen.
«Die Frage ist, wer regieren und wer eine Mehrheit bilden kann», hiess es am Sonntag im Elysée. Gemäss der republikanischen Tradition werde Macron die Struktur der neuen Nationalversammlung abwarten, bevor er Entscheidungen treffe, hiess es weiter.
Der Präsident sei der Garant der staatlichen Institutionen und werde darauf achten, «dass der Wählerwille respektiert werde». Das Regierungslager hat nach den ersten Prognosen seine relative Mehrheit verloren. Es könnte demnach auf den zweiten oder gar dritten Platz abrutschen. Das links-grüne Wahlbündnis liegt überraschend auf Platz eins und hat bereits die Regierungsbildung für sich reklamiert.
Wie der Sender BFMTV berichtete, hiess es mit Blick auf die für eine absolute Mehrheit nötige Zahl von Abgeordneten ausserdem aus dem Élysée-Palast. «Die Frage wird sein, ob eine Koalition mit Zusammenhalt gebildet werden kann, um die 289 Abgeordneten zu erreichen.» Denn keines der Lager kann nach den Hochrechnungen mit der absoluten Mehrheit rechnen.
Die Wahlbeteiligung habe gezeigt, dass die Auflösung der Nationalversammlung notwendig gewesen sei, hiess es dem Sender zufolge aus dem Präsidentenpalast. Mit Blick auf das voraussichtliche Wahlergebnis mit dem Präsidentenbündnis auf Platz zwei erklärte der Élysée-Palast demnach: «Man hatte das Mitte-Lager für tot erklärt: Es ist da, auch nach sieben Jahren an der Macht.»
Grünen-Chefin Tondelier: «Wir haben gewonnen und werden regieren»
Frankreichs Grüne wollen nach dem voraussichtlichen Wahlsieg des neuen Linksbündnisses regieren. «Wir haben gewonnen und jetzt werden wir regieren», sagte Grünen-Generalsekretärin Marine Tondelier in Paris.
«Heute Abend gibt es eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass die Volksfront vorne liegt», sagte Tondelier. «Heute Abend hat die soziale Gerechtigkeit gewonnen, heute Abend hat die ökologische Gerechtigkeit gewonnen und heute Abend hat das Volk gewonnen und jetzt geht es erst los.»
Die seit 1981 höchste Wahlbeteiligung habe belegt, wie wichtig den Menschen in Frankreich die Parlamentswahl gewesen sei, sagte Tondelier. «Das ist ein schöner Sieg der Demokratie, er gehört euch allen.»
«Wir waren auf der Höhe dank der neuen Volksfront», sagte die Grünen-Chefin. «Das ist eine immense Hoffnung, die durch diesen linken Zusammenschluss und die Grünen geschaffen wurde und der das Ereignis dieser Wahl ist.» Erst vor vier Wochen habe das neue Linksbündnis aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und der Linkspartei sich formiert, betonte die Grünen-Chefin.
Frankreichs Sozialistenchef will keine «Koalition der Gegensätze»
Nach dem Überraschungssieg des Linksbündnisses bei der Parlamentswahl in Frankreich will der Chef der Sozialisten, Olivier Faure, kein Regierungsbündnis mit dem Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron. Es solle keine «Koalition der Gegensätze» geben, die die Politik Macrons fortsetze, sagte Faure.
Faure forderte, Frankreich zu erneuern. Es solle unter anderem massive Investitionen für den Klimaschutz geben. Auch sollten Reiche stärker besteuert werden.
Bei der Parlamentswahl in Frankreich liegt ersten Hochrechnungen zufolge das Linksbündnis überraschend vorn. Das rechtsnationale Rassemblement National könnte demnach nur auf dem dritten Platz hinter dem Mitte-Lager von Staatspräsident Emmanuel Macron landen. Die absolute Mehrheit von 289 Sitzen dürfte keines der Lager erreichen.
Der führende Sozialdemokrat Raphaël Glucksmann, der bei der Europawahl Spitzenkandidat der französischen Sozialisten war, sagte, es könne künftig Mehrheiten für einzelne Vorhaben geben. Für Macrons Kräfte hatte sich diese Strategie in den vergangenen zwei Jahren als schwierig erwiesen.
In Frankreich hat die mit Spannung erwartete zweite Runde der vorgezogenen Parlamentswahl begonnen, die den Weg zur ersten rechtspopulistischen Regierung seit Ende des Zweiten Weltkriegs ebnen könnte. Seit der Öffnung der Wahllokale am Sonntagmorgen um 8 Uhr können die Französinnen und Franzosen ihre Stimme abgeben. Mit ersten Hochrechnungen wird am Abend gegen 20 Uhr gerechnet.
Sollte die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) keine absolute Mehrheit bekommen, zeichnet sich die Bildung von drei Blöcken in der Nationalversammlung ab, die die Regierung lähmen und das Land in eine politische Krise stürzen könnten.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (46) hatte die Neuwahl nach dem Wahltriumph des RN bei der Europawahl am 9. Juni ausgerufen. Im Fall einer absoluten Mehrheit der Rechtspopulisten im Parlament nach der Wahl könnte er politisch gezwungen sein, deren Parteichef Jordan Bardella (28) zum Regierungschef zu ernennen.