Reto Raselli (62) geht auf die Knie, zupft etwas Thymian, zerreibt ihn zwischen den Fingern und strahlt: «Ah, das riecht herrlich!» Dank des guten Wetters steht dem Landwirt eine Rekordernte bevor – ganz anders als im letzten Jahr. Wegen des vielen Regens wollte damals nichts so richtig wachsen; die Ernte war die schlechteste seiner ganzen Karriere. «Es war ein einziger Frust», sagt Raselli.
Seit 34 Jahren baut der Landwirt Bio-Kräuter für Ricola und Coop an – am Ufer des Lago di Poschiavo im Valposchiavo (siehe Karte). Das milde Sommerklima lässt hier oben auf rund 1000 Meter über Meer praktisch alles gedeihen, was das Herz begehrt. Kein Wunder, besitzen die meisten der 4700 Einwohner einen eigenen Garten. «Wir lieben es, zu gärtnern», sagt Raselli.
Das Puschlav, wie die Unterländer es nennen, ist das südlichste der 150 Bündner Täler. Grösster Arbeitgeber ist neben der Rhätischen Bahn der Stromkonzern Repower. Der kämpft im Augenblick mit dem starken Franken und tiefen Strompreisen. Wie diese Woche bekannt wurde, rechnet das Unternehmen für 2015 mit einem höheren Verlust als bisher angenommen.
Bioanbau bedeutet viel Handarbeit
Raselli selbst hat zwölf Mitarbeiter angestellt, die vor allem im Sommer die 15 Hektar grosse Anbaufläche beackern.
1981 begann er als Erster im Tal mit der Biokräuterproduktion. Damals noch auf 15 Aren. Die Puschlaver jedoch sahen in ihm nicht den Pionier, sondern beschimpften ihn als Hippie: «De isch wahnsinnig grüen», wetterten sie im Dorf in ihrem Dialekt «Pus’ciavin», einer Mischung aus Italienisch und Rätoromanisch. Der Anbau von landwirtschaftlichen Produkten ohne irgendwelche chemischen Dünger oder Pestizide war für die Bauern jener Zeit einfach undenkbar.
Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Laut Amt für Landwirtschaft des Kantons Graubünden produzieren heute 66 der 85 Landwirtschaftsbetriebe im Puschlav nach biologischen Richtlinien. Nirgends ist die Dichte der Biobetriebe grösser.
Neben Tee produzieren die Puschlaver auch Fleisch, Käse, Wein und Getreide in biologischer Qualität. Ihr Ziel: Das Puschlav soll zum ersten Biotal der Schweiz werden. Dafür setzt sich auch Raselli persönlich ein.
«Die Böden waren in der Vergangenheit viel zu sehr beansprucht, sie wurden überdüngt», sagt er. Sie bräuchten deshalb Ruhe und müssten gepflegt werden. «Das ist wie bei uns Menschen. Wir können auch nicht immer nur arbeiten», sagt er lachend.
Die biologische Landwirtschaft fordert viel Handarbeit – vor allem bei der Unkrautvernichtung. Zusammen mit seinen Angestellten packt der Chef hier persönlich mit an, auf den Knien in der prallen Sonne. «Die Felder müssen vor der Ernte frei von Unkraut sein», sagt er. Wenn nicht, mischen sich die Wildpflanzen unter die Kräuter. Im Trockenraum lassen sie sich dann kaum noch trennen.
35 Tonnen Biochrütli pro Jahr
Durchschnittlich erntet Raselli zwischen 30 und 35 Tonnen «Biochrütli» im Jahr. Ein Drittel davon geht in die Produktion von Ricola-Bonbons. Der Rest geht in Kräutermischungen und Tees, die unter anderem bei Coop unter den Labels Pro Montagna oder Naturaplan verkauft werden.
Obwohl Raselli oft als Kräuterkönig vom Puschlav bezeichnet wird, ist er heute längst nicht mehr der einzige Produzent im Tal. Bekannt ist auch die Teemarke Al Canton der Familie Zanetti-Lazzarini. Dass er der Erste war, der sich professionell mit dem Anbau von Biokräutern beschäftigte, sei einem Zufall zu verdanken. «Die Idee», so Raselli, «stammte ursprünglich von Heimwehpuschlavern.» Ihnen zuliebe pflanzte er zuerst ein paar wenige einheimische Kräuter wie Spitzwegerich, Brennnessel, Eibisch, Schafgarbe und Frauenmantel an. Heute kultiviert er auf seinem Land in Le Prese fast 30 verschiedene Pflanzen und Blumen.
Sein wertvollstes Gut ist die Kornblume. Ein Kilo bringt ihm bis zu 400 Franken. Pro Jahr kann Raselli 40 Kilo ernten. Die Blüten werden hauptsächlich Tees beigemischt, kommen aber auch separat auf den Markt: «Im Gegensatz zu den meisten anderen Blüten verlieren sie beim Trocknen ihre Farbe nicht», sagt der Landwirt. Deshalb eigneten sie sich gut als Farbtupfer.
Ebenfalls Tees beigemischt werden Edelweissblüten. Sie wurden speziell von Agronomen für den Verzehr gezüchtet. Denn das wild wachsende Edelweiss ist in der Schweiz geschützt und darf nicht gepflückt werden. Raselli: «Es ist gut für die Emozioni.»
Emotional wird der Puschlaver, wenn er daran denkt, dass demnächst seine Pensionierung ansteht. Dann übergibt er den Betrieb seinem Neffen, der eben seine Lehre als Landwirt abgeschlossen hat. «Bis ich mich allerdings ganz vom Geschäft lösen kann, wird es wohl noch eine Weile dauern», lacht Raselli. Der Kräuteranbau ist und bleibt für ihn eine Herzensangelegenheit. Was jeder spürt, der ihn auf seine Kräuter anspricht. Dann beginnen seine Augen zu leuchten. «Emozioni» pur.