EPFL-Präsident Vetterli ist stolz auf seine Uni
«Die Romandie hat Zürich teilweise überholt»

Er leitet eine der besten Universitäten der Welt: Martin Vetterli (61), Präsident der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL), über den Aufstieg der Westschweiz, das Auftreten von Mark Zuckerberg und die Zukunft der Kassiererin.
Publiziert: 22.10.2018 um 15:28 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2018 um 16:54 Uhr
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Martin Vetterli ist Präsident der welschen ETH - der EPFL. Er sieht seine Hochschule auf der Überholspur: "Wir sind eine junge, wendige und unternehmerische Hochschule, welche eine Region mitankurbelt, die heute die Grossregion Zürich in vielen Bereichen aufgeholt und teilweise sogar überholt hat."
Foto: Julie de Tribolet
Benno Tuchschmid

Martin Vetterli kommt mit einem Rucksack zum Gesprächstermin in Bern. Der Professor ist einer der führenden Experten für Digitalisierung. Weltweit. Doch elitäres Denken ist Vetterli fremd. Er istgeprägt durch das amerikanische Hochschulsystem und will von allen verstanden werden. Ein Jahr hat er im SonntagsBlick Magazin in einer Kolumne die Digitalisierung erklärt. Nächste Woche erscheint die letzte. Wir trafen Professor Vetterli zum Abschlussgespräch.

Sind Deutschschweizer arrogant?
Martin Vetterli: Ich bin Deutschschweizer. Ich hoffe nicht, dass ich arrogant wirke (lacht).

Ich frage weil Sie Präsident einer besten Universitäten der Welt sind, die in der Deutschschweiz aber kaum jemand kennt. Wieso nicht?
Wir sind jung. Uns gibt es seit 49 Jahren. Die ETH in Zürich ist über 150 Jahre alt. Deshalb wird die EPFL immer noch als kleine Schwester wahrgenommen.

Wie würden Sie denn einem Deutschschweizer die EPFL erklären?
Wir sind eine junge, wendige und unternehmerische Hochschule, welche eine Region mitankurbelt, die heute die Grossregion Zürich in vielen Bereichen aufgeholt und teilweise sogar überholt hat.

Wie bitte?
Das sind nicht bloss Worte, das belegen Zahlen.

Welche denn?
In der Genferseeregion wird zum Beispiel zweimal mehr Risikokapital an Start-Ups ausgeschüttet als in der Grossregion Zürich.

Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass am Genfersee mehr Firmen und mehr KMUs in den Bereichen entstehen, in denen die EPFL auf internationalem Top-Niveau forscht: Informationstechnologien, medizinische Technologie, Biowissenschaften. Aber es ist nicht die einzige Zahl, die für den Aufstieg der Romandie spricht: Zwischen 2006 und 2015 wurden in der Genferseeregion über 100000 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, das ist mehr als im Grossraum Zürich. Wir bekommen auch mehr EU-Forschungsgelder zugesprochen und generierten in den Jahren 2012 bis 2016 rund 300 Millionen Franken mehr an Drittmittel für die Forschung. Nur an einem Ort sind wir etwas abgeschlagen.

Wo?
Bei den Beiträgen von Bund und Kantonen (lacht). Dort steht die Deutschweiz besser da. Es wäre schön, wenn sich das in Zukunft ändert.

Wie ist ihr politischer Rückhalt in Bern? Letztes Jahr mussten sie schwer um ihr Budget kämpfen.
Wir werden auch in diesem Herbst wieder kämpfen müssen. Das ist schade. Die Budget-Ungewissheit ist nicht ideal. In der Forschung muss man auf kontinuierliche Mittel zählen können, aber in Bern existiert die Tendenz jedes Jahr am Budget rumzuhebeln. Alle reden zum Beispiel von einem grossen Bedarf an Digitalisierung und Cybersecurity, doch das lässt sich mit unsicheren Budgets nur schwierig umsetzen.

Die Finanzpolitiker sehen vielleicht auch einfach, dass ihr Budget in den letzten fünfzehn Jahren stark gewachsen ist.
Schauen wir uns die Resultate an. Die lassen sich sehen. Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel.

Ok.
Die Wirtschaft sagt: Wir brauchen unbedingt mehr Wissenschaftler, die mit grossen Datenmengen umgehen können. Davon sprach noch vor fünf Jahren niemand. Voilà: Wir haben heute einen neuen Master-Lehrgang in Data-Science mit etwa hundert Studenten. Die können nach dem Abschluss alle zwischen mehreren Job-Angeboten auswählen. Wir bringen also Studenten auf den Markt, um die sich die Wirtschaft reisst und das beweist: Die Steuergelder sind bei uns gut investiert.

An der EPFL sind dreiviertel der Doktoranden Ausländer. Sind sie überhaupt noch eine Schweizer Hochschule?
Ich war lange in den USA. Dort hat mich nie jemand nach dem Pass gefragt. An der Universität Berkeley in Kalifornien, wo ich forschte, waren zweidrittel der Doktoranden aus dem Ausland. Aber wissen Sie was der Unterschied ist?

Nein.
Nach dem Studium blieben sie im Land und gründeten Firmen. Wir bilden die Leute aus, bringen ihnen die Schweizer Kultur näher und wenn Sie bereit sind etwas zurückzugeben, sagen wir ihnen: Bye, bye. Das ist eine verpasste Möglichkeit.

Sie sagen, dass Forschung auf internationalem Top-Niveau eine offene Gesellschaft bedingt. Wieso?
Weil wir die besten Leute brauchen, um global bestehen zu können. Schauen Sie sich die Wirtschaft an: Die Mehrheit der Firmen, die zum Wohlstand der Schweiz beitragen, sind Firmen, die 90 bis 95 Prozent ihres Umsatzes im Rest der Welt erwirtschaften. Das ist der Erfolg der Schweiz. In der Forschung ist es dasselbe. Offenheit gehört zu unserer DNA. Die Schweiz lag schon immer an der Kreuzung der Kulturen. Man pokert hoch, wenn man diese Tradition immer wieder in Frage stellt.

Wächst die Romandie so stark, weil sie offener als die Deutschschweiz ist?
(Zögert) Die Frage müssen Sie selber beantworten. Aber Schauen Sie sich die Abstimmungsresultate an.

Sind sie eigentlich froh, ist Bildungsminister Johann Schneider Ammann bald nicht mehr Bildungsminister?
Was ist denn das für eine Frage?

Alles was man von Bundesrat Schneider-Ammann im Bezug auf Bildung in der Öffentlichkeit hört ist: Berufslehre, Berufslehre, Berufslehre.
Er hat sich schon für das ETH-System eingesetzt. Ich bin mit dem Bundesrat übrigens einig: Das duale Bildungssystem ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Schweiz. Wir haben Leute an der EPFL, die einst eine Berufslehre machten, dann an eine Fachhochschule gingen und nun doktorieren. Das sind mitunter die Motiviertesten, die wir haben. Wenn Sie in Frankeich mit 18 den «Concours des Grandes Écoles» nicht überstehen, können sie die Hochschule vergessen.

Wie viele Frauen studieren an der EPFL?
28,5 Prozent.

Das kam wie aus der Pistole geschossen.
Die Zahl kenne ich. Mir wären 50 Prozent lieber. Wir arbeiten zum Beispiel seit Jahren daran, das Interesse bei Mädchen für Studien der Informations- und Kommunikationstechnik zu fördern. Wir werden noch mehr Programme starten. Aber das braucht Zeit.

Der Schweizer Google-Manager Urs Hölzle sagt: Die Schweiz hinkt der USA in Sachen Frauenförderung in Informatik-Studium um Jahre hinterher.
Das stimmt leider.

Wieso ist das so?
Die Schweiz ist eben doch konservativer als die USA. Das Wahl- und Stimmrecht kam für Frauen 1971. In den USA haben sie bei Yahoo und Facebook Frauen in Top-Management-Positionen. Bei uns hat es weniger solche Vorbilder. Dasselbe gilt für Hochschulen: Bei den Assistenzprofessoren haben wir an der EPFL 30 Prozent Frauen, bei den Vollprofessuren unter 10 Prozent. Es ist wichtig, dass sich das ändert.

Einer ihrer Professoren, Marcel Salathé, Spezialist für künstliche Intelligenz, sagt: Eltern müssen heute ihren Kindern Programmieren beibringen. Alles andere ist unverantwortlich. Einverstanden?
Programmieren geht vielleicht etwas weit. Aber ich bin überzeugt: Jeder Mensch, ob jung oder alt, der in dieser Gesellschaft lebt, muss die digitalisierte Welt ansatzweise verstehen. Wenn man überhaupt keine Ahnung hat, wie Google und Facebook funktionieren, dann ist man diesen Firmen total ausgeliefert. Es darf nicht bloss eine kleine Elite verstehen, was es für das Einkommen eines lokalen Dienstleisters bedeutet, wenn sich die digitalen Businessmodelle verändern.

Ist die Digitalisierung gut oder schlecht?
Mit Feuer kann man kochen oder ein Haus in Brand setzen. Mit der Druckpresse kann man die Leute bilden oder Hass verbreiten. Was ich sagen will: Die Gesellschaft muss mit der Digitalisierung umgehen können und ihr einen gesetzlichen Rahmen geben. Haben Sie Mark Zuckerberg bei seiner Anhörung vor dem US-Senat gesehen? Das war unglaublich!

Wieso?
Da zeigt ein junger, smarter Typ im Prinzip der Politik den Vogel. Und die Politiker realisieren es nicht einmal. Solche Politiker können wir uns nicht leisten.

Was muss die Gesellschaft denn mit Mark Zuckerberg machen?
Jeder Bürger muss sich die Frage stellen, welche digitalen Angebote er nutzen will. Meine persönliche Einstellung ist die folgende: Wenn meine Daten so wertvoll sind, wie alle sagen, dann sollte dafür auch etwas bezahlt werden.

Das ist radikal!
Wissen Sie, es gab in der Geschichte immer wieder dominante Firmen. Aber irgendwann sagt eine Gesellschaft: Das geht zu weit. Ich bin für Innovation, aber es braucht eine Balance und die stimmt vielleicht nicht immer.

Können Sie das erklären?
Facebook hat zum Beispiel 2,2 Milliarden Benutzer. Das ist die grösste Nation der Welt. Wollen wir das? Ich bin nicht sicher. 

Sind sie Teil dieser Nation?
Ich bin nicht auf Facebook. Dazu fehlt mir die Zeit.

Das ist die politische Ebene. Die Kassiererin im Grossverteiler sieht die Schlange bei der Selbstbedienungskasse und fürchtet, dass sie bald weggespart wird.
Diese Angst verstehe ich. Das ist die wirkliche gesellschaftliche Herausforderung. Meine einzige Antwort ist: Fortbildung. Aber klar, wir können als Gesellschaft diesen Menschen nicht sagen: Sorry, wir haben keine Verwendung mehr für Euch. Die Debatte über Grundeinkommen ist deshalb interessant.

Sie sind für das bedingungslose Grundeinkommen?
Das habe ich nicht gesagt. Aber es gibt interessante Argumente für das Grundeinkommen. Aber auch hier gilt: Die Technologie hat keine Antwort, die muss von der Gesellschaft kommen. 

Steile Karriere

Martin Vetterli wuchs als Kind von Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für ­Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den ­Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Martin Vetterli wuchs als Kind von Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für ­Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den ­Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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