Entlassungswelle im Tieflohnsektor
«Der Staat hat uns vergessen»

Temporäre und Ausländer trifft es am härtesten: Die Corona-Nothilfe kommt nicht bei ihnen an. Einige von ihnen starteten jetzt eine Petition.
Publiziert: 25.04.2020 um 23:49 Uhr
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Aktualisiert: 26.04.2020 um 11:03 Uhr
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60 Milliarden Franken stellte der Bundesrat zur Unterstützung der Schweizer Wirtschaft bereit. Doch nun zeigt sich: In vielen Fällen kommt die Hilfe gar nicht an. Am härtesten trifft es die Schwächsten: Temporäre und Ausländer – so wie Samuele Pellegrini.
Foto: Nathalie Taiana
Danny Schlumpf und Camille Kündig

Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise versprach Wirtschaftsminister Guy Parmelin (60): «Hilfe kommt!» 60 Milliarden Franken stellte der Bundesrat bald darauf zur Unterstützung der Schweizer Wirtschaft bereit. Nun zeigt sich, dass die Hilfe häufig gar nicht ankommt.

Am härtesten trifft es die mit dem geringsten Status, Temporäre und Ausländer. Sie waren oft schon entlassen, bevor der Bundesrat überhaupt in Aktion trat. Schlimmer noch: Auch die Notmassnahmen änderten nichts. Die Kündigungswelle rollt.

Samuele Pellegrini (36) gehört zu ihren frühesten Opfern. Am 1. März kam der Italiener in die Schweiz, um als Koch in einem bekannten Zürcher Gastro-Unternehmen anzufangen. Zwei Wochen später dann der Nackenschlag: «Als die Krise kam, wurde ich sofort gefeuert!» Auf Arbeitslosengeld hat er keinen Anspruch. Ihm bleibt nur die Rückkehr in sein Heimatland. «Ich hatte eine Stelle und eine Idee, wie ich mein Leben in der Schweiz führen könnte», sagt der zweifache Familienvater. «Das ist jetzt vorbei. Alle meine Pläne sind kaputt.»

Der Albaner Darkan Gashi* (48) arbeitete in einem Genfer Fünf­sternehotel, sechs Monate lang. Dann wurde der Autosalon abgesagt – und Gashi entlassen.
Zehn Tage später, am 20. März, ermöglichte der Bundesrat Kurzarbeit für Temporäre. «Ich bat mein Verleihbüro, die Kündisgung aufzuheben und mich stattdessen auf Kurzarbeit zu setzen – vergeblich.» Gashi ist nicht der Einzige, dem es so erging: 700 Temporäre in der Region Genf verloren durch die Absage des Autosalons ihren Job. Gerade vier von ihnen er­halten jetzt Kurzarbeitsentschädigung.

Temporärarbeit wurde zur Regel

Ursprünglich war die Temporär­arbeit dazu gedacht, Auftragsschwankungen im Industrie- und Bausektor abzufedern. Doch dann verbreitete sich diese Anstellungsform stark und wurde in vielen Branchen fast zur Regel. Vor 20 Jahren arbeiteten rund 200'000 Temporäre in der Schweiz. Seitdem hat sich diese Zahl verdoppelt: 400 '000 sind es mittlerweile, viele von ihnen haben einen ausländischen Pass.

«Heute gibt es in der Industrie Betriebe, die mit 20 bis 50 Prozent Temporären arbeiten», sagt Véronique Polito, in der Geschäftsleitung der Gewerkschaft Unia zuständig für Temporäre.

«Nach Ausbruch der Corona-Krise wurden sie als Erste entlassen», sagt Polito. Auch die Massnahmen des Bundesrats könnten da kaum helfen. «Die Entlassungswelle bricht nicht ab. Es gibt nur wenige Temporäre in Kurzarbeit.»

Stellen nicht garantiert

Der Grund: Arbeitgeber der Temporären sind, juristisch gesehen, nicht die Einsatzbetriebe, sondern die Personalverleiher. Ihre Temporärbüros sind deshalb auch für Anträge auf Kurzarbeit zuständig. Die aber wollen die Personalverleiher nur dann stellen, wenn die Betriebe zusichern, dass die Temporären auch nach der ­Krise bei ihnen arbeiten. «Das kann aber praktisch niemand garantieren», sagt Gewerkschafterin Polito.

Boris Eicher ist Leiter Rechtsdienst von Swissstaffing, dem Verband der Personalverleiher. Er gibt den Schwarzen Peter weiter : «Die Entscheidung, ob Kurzarbeit möglich ist, muss in Absprache mit den Einsatzbetrieben erfolgen.» Klar ist: Die Entscheidungsgewalt liegt bei den Temporärbüros.

Dass sie so restriktiv vorgehen können, liegt an den Vorgaben des Bundes: Die Verordnungen zur Kurzarbeit für Temporäre führen zu Kollisionen mit dem bereits bestehenden Arbeitslosenversicherungsgesetz: Sie lassen sich daher auch zu Ungunsten der Temporären auslegen.

Opfer dieses Hickhacks sind die Temporären, die trotz Zusage des Bundesrats keine Kurz­arbeitsentschädigung erhalten. Viele arbeiten an Flughäfen – in der Gepäckabfertigung, im Catering-Service oder in Restaurants.

Am Flughafen Genf haben sie jetzt beschlossen, sich zu wehren: Gemeinsam mit der Unia lancierten Temporäre, Stundenlohnarbeiter und weitere An­gestellte eine Petition. Ihre Forderungen: Kündigungsstopp, voller Lohn und ein Fonds für Härtefälle.

Prekäre Lage im Tieflohnsektor

Mit dabei ist Bryan Elvir (26), zuständig für Verspätungsmeldungen an die Fluggäste – und ­einer der wenigen Temporären, die Kurzarbeitsentschädigung erhalten. Aufgrund seines Lohns von 1800 Franken im Monat beträgt die Entschädigung knapp 1600 Franken. Ein Beispiel dafür, wie prekär die Lage der Arbeitnehmenden im Tieflohnsektor ist.

Jetzt engagiert sich Elvir aus Solidarität: «Wir fühlen uns ­allein gelassen – vom Flughafen Genf, der die letzten Jahre reichlich Umsatz gemacht hat. Aber auch vom Staat, der uns vergessen hat.» Viele seiner Kollegen hätten kein Anrecht auf Kurz­arbeit. Etwa, weil sie auf Abruf arbeiten oder nur kurze Aufträge haben, die nun nicht verlängert werden. «Andere wurden kurz vor den Ankündigungen des Bundesrats zur Kurzarbeit für Temporäre entlassen. Jetzt stehen sie mit leeren Händen da.»

Im Arbeitsrecht gilt der Grundsatz: Der Arbeitgeber trägt das Unternehmerrisiko. «Doch bei den Temporären wird das Risiko auf den Arbeitnehmer abgewälzt», sagt Véronique Polito von der Unia. «Das zeigt sich in dieser Krise so deutlich wie noch nie.» Auch deshalb nimmt die Arbeitslosigkeit zu. Anfang März lag sie bei 2,1 Prozent. Bis Ende April rechnet das Staatssekretariat für Wirtschaft mit ­einem Anstieg auf 3,4 und langfristig gar auf 7 Prozent.

Die Zahl der Stellenausschreibungen hingegen ist seit Anfang März um ein Viertel eingebrochen. Und weil viele entlassene Temporäre aufgrund ihrer ­unregelmässigen Anstellungen in den letzten zwölf Monaten kein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben, überraschen auch die Resultate einer neuen Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nicht: Seit Beginn des Lockdowns haben sich die Anträge auf Sozialhilfe in der Schweiz vervierfacht.

*Name geändert

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