Seit die russische Armee vor einem Jahr die Ukraine überfiel, ringt die westliche Welt um den richtigen Kurs, Kriegstreiber Wladimir Putin (70) zum Einlenken zu bewegen.
Zurzeit suchen Vertreter der Europäischen Union nach Wegen, die Währungsreserven der russischen Nationalbank einzuziehen und Vermögen russischer Oligarchen nicht nur zu blockieren, sondern auch zu konfiszieren. Die Idee: Das Geld soll dazu verwendet werden, den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren.
Die Schweiz hat die Sanktionen der EU in den vergangenen Monaten weitgehend übernommen: 7,5 Milliarden Franken und 15 Liegenschaften aus dem Vermögen reicher Russen sind derzeit blockiert. Dass diese Gelder dereinst eingezogen werden könnten, wie es der EU vorschwebt – und auch den USA –, schliesst der Bund jedoch aus.
Vor wenigen Tagen publizierte der Bundesrat eine Mitteilung, in der er festhält: «Die Einziehung eingefrorener privater Vermögenswerte widerspricht der Bundesverfassung, der geltenden Rechtsordnung und verletzt internationale Verpflichtungen der Schweiz.» International sorgte dieses unmissverständliche Urteil für Aufsehen. Auch die führende Wirtschaftszeitung «Financial Times» machte es zum Thema.
Die Grundlage für das Statement waren Abklärungen einer verwaltungsinternen Arbeitsgruppe unter der Leitung des Bundesamtes für Justiz. Die rechtliche Analyse dazu lieferte jedoch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das in der Schweiz für den Vollzug und die Überwachung von Wirtschaftssanktionen zuständig ist.
Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz konnte SonntagsBlick das Papier einsehen, das Ende Oktober 2022 an die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats ging. Unterzeichnet ist es von niemand Geringerem als der Seco-Direktorin Helene Budliger Artieda (57).
Die rechtliche Auslegeordnung wirkt auf den ersten Blick wenig spektakulär. Trocken erläutert Budliger Artieda, weshalb weder das Embargogesetz, das Strafgesetzbuch, das Gesetz über unrechtmässig erworbene Vermögenswerte noch das Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen eine gesetzliche Grundlage dafür liefern können, russische Oligarchen zu enteignen.
Kritik an der EU
Zündstoff birgt dagegen der Abschnitt, in dem die Seco-Chefin erörtert, welche rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssten, um zukünftig Enteignungen in der Schweiz möglich zu machen. In der betreffenden Passage wirft die Staatssekretärin der EU nämlich vor, mit einem fragwürdigen Manöver dafür sorgen zu wollen, dass russische Gelder in Zukunft eingezogen werden können.
Konkret geht es um die Ausweitung der Meldepflicht für sanktionierte Personen und Organisationen. Die sind seit Juli 2022 verpflichtet, Vermögenswerte zu melden, die sie in einem EU-Mitgliedstaat halten. Kommt ein sanktionierter Russe dieser Pflicht nicht nach, wird dies von der EU als Umgehung der Sanktionen eingestuft – und muss von den Mitgliedstaaten geahndet werden.
Je nach Land könnte dabei auch die «Einziehung nicht gemeldeter Vermögenswerte» in Betracht kommen, so die Einschätzung von Budliger Artieda.
Offiziell geht es bei der geplanten Ausweitung der Meldepflicht darum, weitere Oligarchengelder aufzuspüren. Budliger Artieda glaubt aber nicht daran, dass dadurch tatsächlich mehr Vermögen sanktionierter Russen entdeckt werden. Sie hat einen Verdacht, wie sie im vertraulichen Schreiben an die Rechtskommission festhält: «Die Absicht dieser Ausweitung der Meldepflicht scheint also eher in der Sanktionierung von Verstössen gegen diese neue Massnahme zu liegen.»
Zwei Absätze später führt die Spitzenbeamtin weiter aus: «Wenn man (...) davon ausgeht, dass die Ausweitung der Meldepflicht in erster Linie dazu dienen soll, eine gesetzliche Grundlage für die strafrechtliche Einziehung von Vermögenswerten zu schaffen, wäre dies aus rechtsstaatlicher und rechtspolitischer Sicht bedenklich.»
Das sitzt. Die oberste Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft, das die Umsetzung der Russland-Sanktionen in der Schweiz verantwortet, unterstellt den Kollegen in Brüssel, durch die Hintertür eine «rechtsstaatlich bedenkliche» Möglichkeit zu schaffen, um die gesperrten Vermögenswerte von russischen Oligarchen konfiszieren zu können.
Wie kommt Budliger Artieda dazu? Und: Vertritt der Bund diese Meinung auch im direkten Austausch mit der EU?
Seco windet sich
Auf Anfrage von SonntagsBlick versucht die Seco-Chefin, ihre Aussagen zu relativieren. Die Medienstelle teilt mit: «Das Seco verfolgt Entscheide der EU sehr eng und hat nach Erlass der ausgeweiteten Meldepflicht eine Einschätzung zum möglichen Nutzen und allfälliger Auswirkungen auf die Schweiz im Hinblick auf die Übernahme in das nationale Recht vorgenommen. Die zitierte Textstelle bezieht sich auf diese Überlegungen und gibt keinesfalls die Haltung gegenüber einem Entscheid der EU wieder.»
Diese Argumentation überzeugt nicht. Denn sie ändert nichts daran, dass Budliger Artieda die Ausweitung der Meldepflicht sowie die Sanktionierung von Verstössen gegen diese Massnahme für «rechtsstaatlich bedenklich» hält – und damit das Vorgehen der EU.
Unklar bleibt derweil, wie der Affront der Seco-Chefin in Brüssel ankommt. Die Medienstelle des Europäischen Rats, der die Ausweitung der Meldepflicht im Sommer beschlossen hatte, will «die internen Prozesse einer Nicht-EU-Institution» nicht kommentieren.
Zumindest nicht öffentlich.