Eigenverantwortung statt Hierarchie
Swisscom schafft die Chefs ab

Beim Grosskonzern Swisscom gilt neu: Jeder ist Boss, alle sind ein Team. Aber kann diese moderne Arbeitsform gut gehen?
Publiziert: 30.08.2017 um 23:50 Uhr
|
Aktualisiert: 07.10.2018 um 10:57 Uhr
Ganz neuer Ansatz im Job: Inma Reis und Sacha Fürer an einem sogenannten «Scrum Board», wo regelmässig die Fortschritte besprochen und notiert werden.
Foto: Thomas Lüthi/HEG
Konrad Staehelin

Seit Februar ist Inma Reis (34) nicht mehr Chefin. Sie hat keine Untergebenen mehr. Früher delegierte die Swisscom-Mitarbeiterin Aufgaben. Heute arbeitet sie eingebettet in einem Team von Gleichberechtigten auf der untersten Hierarchiestufe der Swisscom-Softwareentwicklung. Das Projekt des Teams: eine neue Telefon-Software für KMU-Lösungen zu programmieren. 

Reis wurde weder strafversetzt, noch hatte sie eine Lohneinbusse. Vielmehr hat der Telekomriese ihre Software-Abteilung komplett umgebaut. Weg von der klassischen Hierarchie, in der jeder einen Chef hat bis hinauf in die Unternehmensspitze, hin zu einer sogenannten agilen Organisationsform.

Schon rund 1500 der 18’000 Angestellten arbeiten ohne Chef, wie BLICK erfahren hat. In fünf bis zehn Jahren sollen es sogar mehr als die Hälfte sein. 9000 Mitarbeiter ohne Chef: Wie kann das funktionieren?

Schon jetzt ein Trend

Als BLICK Reis im Swisscom-Bürogebäude beim Zürcher Hauptbahnhof trifft, sagt sie: «Es macht mir nichts aus, nicht mehr Teamleiterin zu sein.» Sie hat eine kurze Zusatzausbildung gemacht, darum ist sie jetzt Koordinatorin des Teams – aber nicht mehr Chefin. «Ich kann mich so noch besser in die Entwicklung einbringen.»

Die Swisscom ist mit ihrem Umdenken nicht allein. In Zeiten der Digitalisierung bieten klassische Arbeitsstrukturen für viele Aufgaben nicht mehr die beste Lösung. Die neuen Konzepte, die im US-Software-Mekka Kalifornien entwickelt wurden, tragen hochtrabende Namen wie Soziokratie oder Holacracy. Und es arbeiten nicht mehr nur kleine Software-Buden mit den Konzepten, auch immer mehr Grosskonzerne entdecken deren Reiz. Die Credit Suisse beschäftigt 1500 Personen in agilen Organisationsformen, bei den SBB sind es 1200.

Problematisches Puzzlespiel

Das Modell, in dem Inma Reis bei der Swisscom arbeitet, heisst Scrum (dt.: Gedränge). Es funktioniert so: Ein Projekt-Team – genannt Squad – besteht aus acht Mitarbeitern der Abteilungen Design, Entwicklung, Testing und Betrieb, die zuvor kaum miteinander zu tun hatten. Früher arbeitete jede dieser Abteilungen monatelang an ihrem eigenen Projekt und gab dieses darauf an die nächste Abteilung weiter.

Ein Puzzlespiel, in dem die Teile selten zueinanderpassten. Reis sagt: «Manchmal war es schwierig, dafür zu sorgen, dass alles passt. Dies führte zu Überstunden. Es wurden teilweise Abstriche am Endprodukt gemacht oder auch mal das Budget nicht eingehalten. Und der Kunde war am Schluss auch nicht immer komplett zufrieden.»

Jetzt dagegen trifft sich Reis’ Mini-Team täglich. Alle zwei Wochen präsentiert es dem Kunden die neusten Fortschritte. Schritt für Schritt. «Passt etwas nicht, können wir sofort reagieren», sagt Reis. «Die regelmässige Kommunikation mit den Kollegen aus anderen Fachbereichen garantiert, dass am Schluss alles zusammenpasst.»

Gab es bei der gleichen Anzahl Leute früher Dutzende Chefpositionen, steht über den neuen Teams jetzt einzig ein sogenannter Head of Tribe («Häuptling»). In diesem Fall ist das Sacha Fürer (42). Als klassischer Chef sieht er sich nicht. «Ich sorge für die Bedingungen, unter denen jeder Einzelne seine beste Leistung abrufen kann. Aber Befehle erteilen oder dreinreden? Das kann ich gar nicht. Denn die Mitarbeiter haben in den meisten Fällen das bessere Expertenwissen als ich.» Er sei für sie eher ein Coach und helfe ihnen, sich zu entwickeln und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Und wenn ein Mitarbeiter seine Leistung nicht erbringt? «Dann muss ich handeln. Aber das ist bisher bei mir nicht vorgekommen. Die Mitarbeiter arbeiten für den Erfolg ihrer Teams, nicht für mich. Seine Teamkollegen will man nicht enttäuschen, da gibt jeder sein Bestes.»

Wer hat bei Ihnen das Sagen?

Bei der Swisscom wird in ein paar Jahren mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden keinen Chef mehr ­haben. Und Sie? Gibts in Ihrem Unternehmen auch keine Hierarchien mehr? Oder haben Sie ein anderes untypisches Organisationsmodell, das BLICK-Leser interessieren könnte? Schicken Sie uns bis Freitagmittag ein E-Mail an blickwirt@ringier.ch oder eine Nachricht per Whatsapp auf 079 813 80 41. Danke fürs Mitmachen!

Mehr Macht den Querulanten!

Kommentar von Wirtschaftsredaktor Konrad Staehelin

Kinder werden für einen Seich nach dem milderen Jugendstrafrecht beurteilt. Die Gesellschaft geht davon aus, dass sie noch nicht den Grips haben, um die volle Verantwortung zu tragen. Im Unterschied zu einem Erwachsenen.

Im Job gilt dasselbe: Wer Befehle ausführt, steht unter weniger Druck als jener, der sie gibt. Geht ein Projekt schief, hält meist der Chef den Kopf hin.

Warum muss Sie das interessieren?

Die Digitalisierung hat gerade erst damit angefangen, Jobs zu schaffen, die Grips brauchen. Und wer etwas im Kopf hat, ist ungern Befehlsempfänger. In klassischen Hierarchien gelten diese Menschen als Querulanten. Solches Denken ist von gestern. Nur wo sich Querdenker einbringen können, werden sie wertvoll. Je flacher die Hierarchie, desto eher ist das der Fall.

Klar lauern Fallstricke: Was ist mit jenen, die eine Karriere anstreben? Wer in einem erfolgreichen Team hat am ehesten eine Lohnerhöhung verdient? Hier ist Frust programmiert.

Doch das ist es wert. Denn je mehr Verantwortungsträger die Gesellschaft bekommt, desto mündiger wird sie. Das ist, wie wenn ein Kind erwachsen wird.

Shane Wilkinson

Kommentar von Wirtschaftsredaktor Konrad Staehelin

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Doch das ist es wert. Denn je mehr Verantwortungsträger die Gesellschaft bekommt, desto mündiger wird sie. Das ist, wie wenn ein Kind erwachsen wird.

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