Seit Montag dürfen die Wirte wieder Gäste empfangen. Ende gut, alles gut? «Nicht für mich», sagt Roswitha Puschnig (59). Seit 33 Jahren führt sie das Restaurant Calanda in Felsberg GR. Doch nun ist die Wirtin ratlos. Das vorgeschriebene Schutzkonzept, so klagt sie, lasse sich nur unter massiven Verlusten befolgen. Sie habe sämtliche Varianten durchgespielt, das Resultat war jedes Mal dasselbe: «Ich verliere zwei Drittel der Tische. So kann ich nicht öffnen!»
Aber war es nicht die Spitze der Gastrobranche, die auf eine rasche Öffnung drängte? Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer (58) setzte den Bundesrat schwer unter Druck. Vom ersten Tag an, dem 16. April, als das Ausstiegsszenario aus dem Lockdown präsentiert wurde – ohne die Gastronomie zu erwähnen. Das brachte Platzer so auf die Palme, dass er das Vorgehen des Bundesrats als «Frechheit» bezeichnete.
Gastrosuisse boxte Schutzkonzept durch
Unterstützung erhielt er von der SVP, die sich lautstark für eine schnellere Öffnung einsetzte. Allerdings teilten schon damals längst nicht alle Wirte diese Meinung. Eine Umfrage des Verbands Gastro Zürich-City ergab, dass nicht einmal die Hälfte ihrer Mitglieder eine zügige Öffnung mit entsprechend rigiden Vorgaben unterstützte.
Gastrosuisse boxte schliesslich ein Schutzkonzept durch, das auch dem Bundesrat gefiel, der daraufhin eine Kehrtwende vollzog: Auch Gastrobetriebe durften nun bereits am 11. Mai wieder öffnen. Das schien sogar Platzer zu überraschen. Und Wirtin Puschnig fand es völlig unverständlich: «Ich habe Gastrosuisse nicht darum gebeten, Druck auf den Bundesrat auszuüben.» Es sei absehbar gewesen, dass eine frühe Lockerung nur mit extrem strengem Schutzkonzept zu haben sei. «Wir Kleinen müssen es nun ausbaden. Dabei bin ich nicht einmal Mitglied von Gastrosuisse!»
Niemand ist verpflichtet aufzumachen
Ins gleiche Horn stösst Walter Schöb (66), Besitzer der Rheinfelder Bierhalle im Zürcher Niederdorf: «Das Schutzkonzept macht die Branche kaputt.» Auch er kritisiert Gastrosuisse. «Dass sich die ganze Branche an das Konzept eines einzelnen Verbandes halten muss, ist absolut unverständlich.» Die überstürzte Öffnung stelle, so Schöb, Tausende Betriebe vor die Wahl: «Entweder öffnen sie und machen massive Verluste – oder sie verlieren ihre Kunden.»
Gastrosuisse-Präsident Platzer verteidigt sich: «Das Datum für den ersten Lockerungsschritt in der Gastronomie hat nicht Gastrosuisse, sondern der Bundesrat in Absprache mit seinen Experten und aufgrund der epidemiologischen Lage festgelegt.» Dem Verband sei bewusst, dass Unternehmen je nach Betrieb und Möglichkeiten unterschiedlich betroffen seien. Und: Niemand sei verpflichtet aufzumachen. «Wir erhalten sehr viele Rückmeldungen von Gastrounternehmern, die froh darüber sind, ihren Betrieb wieder zu öffnen, ihren Mitarbeitenden Arbeit geben zu können und für ihre Gäste da zu sein.»
Fakt ist: Vielen Restaurants fehlen die Gäste. «Die Gastronomiebetriebe sind mehrheitlich schwach frequentiert», sagt Mauro Moretto, Gastrospezialist der Gewerkschaft Unia. Seine Leute waren in der ganzen Deutschschweiz unterwegs, um den Schutz der Angestellten zu überprüfen. Lohnt es sich, unter diesen Umständen überhaupt zu öffnen? «Die Frage ist berechtigt», sagt Adrian Müller (56), Inhaber des Romantik Hotel Stern in Chur. «Das Schutzkonzept ist einschneidend. Viele Vorschriften kamen überdies sehr kurzfristig, das hat uns die Organisation stark erschwert.» Wichtig sei, dass das Versammlungsverbot in absehbarer Zeit gelockert werde. «Sobald wieder 50 Personen beisammen sein können, ist es auch wieder möglich, Bankette anzubieten.»
In Chur haben fast alle Beizen offen
Unterstützt wird Casimir Platzer durch Franz Sepp Caluori (60), Präsident von Gastro Graubünden. Er verteidigt diese Lockerung, sein Café in der Churer Altstadt ist seit Montag geöffnet. «Mit über 300 Betrieben hat unsere Stadt die höchste Beizendichte der Schweiz. Fast alle haben offen.» Zwar sei derzeit an Gewinne nicht zu denken. «Aber jeden Tag kommen mehr Leute.»
Darauf hofft auch Roger Lang (57), Wirt der Betriebe Rathskeller und Kreuz in Olten SO. «Unter diesen Bedingungen kann ich nicht lange überleben.» Im Moment sei es eine Beschäftigungstherapie, das Lokal offen zu halten: «Viele haben gedacht, jetzt komme der grosse Ansturm auf die Beizen. Der ist definitiv ausgeblieben.»
Roswitha Puschnig hat unterdessen ihre Entscheidung gefällt: «Solange das aktuelle Schutzkonzept gilt, fahre ich besser, wenn ich das Restaurant nicht öffne.» Sie hofft auf den 8. Juni: «Dann wird der Bundesrat hoffentlich den verbindlichen Abstand auf einen Meter festlegen.» Dieser gilt heute bereits in Österreich. Die Wirtin: «Und meines Wissens springen die Viren in der Schweiz nicht weiter als in unseren Nachbarländern.»