Die Krankenkassen wollen unsere Gesundheitsdaten
Überwachung auf Schritt und Tritt

Mithilfe von digitalen Geräten wie Schrittzählern und Smartwatches planen die Krankenkassen eine Total-Überwachung unserer Daten. Wer nicht mitmacht, zahlt mehr Prämie.
Publiziert: 05.09.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 20:38 Uhr
Von Martina Wacker und Michael Bolzli

Arbeiten Sie im Büro? Dann laufen Sie am Tag durchschnittlich 4000 Schritte. Das ist zu wenig und langfristig ungesund. Ihre Versicherung könnte Sie für den Bewegungsmangel künftig bestrafen, etwa in Form von höheren Prämien. Denn dank der Verbreitung von Schrittzählern, Smartwatches und anderen sogenannten Wearables weiss sie jederzeit, was Sie gerade treiben – oder eben nicht.

Laut dem Marktforschungsinstitut GFK sind bis Ende Jahr weltweit über 50 Millionen Daten-Tracker im Umlauf. Neben dem Puls messen die digitalen Geräte die Anzahl Schritte, zählen Kalo­rien, zeichnen die Jogging-Strecke oder das Fitnessprogramm auf. Und was bisher vor allem schwarz und klobig daherkam, wird immer schicker. So gibt es heute zum Beispiel Smartwatches in Gold eingefasst.

Für die Versicherer sind die digitalen Geräte ein Segen. Schliesslich beruht ihr Geschäft darauf, das Risikoprofil ihrer Kunden zu ermitteln. «Die Messung von Lebensstildaten ist die Zukunft in der Versicherungsindustrie», sagt Peter Ohnemus (50), Inhaber von Dacadoo, einem Unternehmen, das sich auf das Sammeln von Gesundheitsdaten spezialisiert hat.

Als eine der ersten Krankenkassen im Land will sich die CSS nun die zunehmende digitale Selbstvermessung zunutze machen. Dafür zählen in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich und der Universität St. Gallen 2000 CSS-Kunden freiwillig die von ihnen hinterlegten Schritte. 10 000 sollten es täglich sein. Die effektive Anzahl wird schliesslich direkt via Schrittzähler an die Versicherung übermittelt und dort gespeichert. Das Pilotprojekt dauert noch bis Ende Jahr.

«Wir sind die erste Krankenkasse in Europa, die einen solchen Pilot lanciert hat», sagt Volker Schmidt (43), Konzernleitungsmitglied und Leiter Versicherungstechnik & Informatik bei der CSS. Ziel des Projekts mit dem Namen My­Step sei es herauszufinden, wie gross die Bereitschaft unter den Versicherten sei, persönliche Daten offenzulegen. «Bis jetzt ist die Resonanz sehr positiv», so Schmidt. Für ihn ist klar: «Die Digitalisierung ist ein grosser Vorteil für das Gesundheitswesen.» Dank ihr sei es möglich, dass sich die Bevölkerung wieder mehr bewege.

Obwohl die digitalen Hilfsmittel per Gesetz bis jetzt nur in der Zusatzversicherung eingesetzt werden dürfen, ist Schmidt davon überzeugt, dass sich auch die Grundversicherung dem technischen Fortschritt nicht verschliessen könne. «Angesichts der steigenden Gesundheitskosten werden wir nicht darum herumkommen, die Eigenverantwortung zu fördern, um letztlich auch die Solidarität zwischen den Versicherten zu stärken», sagt er. Im Klartext heisst das: Wer sich nicht überwachen lässt, zahlt mehr Prämie!

Gleicher Ansicht ist Dacadoo-Inhaber Ohnemus. Seine Firma hat einen Gesundheits­index ent­wickelt, der sich aus Bewegungs-, Schlaf- und Ernährungsdaten zusammensetzt. Aber auch individuell definierte Gemütszustände fliessen in den Index hinein. Laut Ohnemus interessieren sich derzeit viele Schweizer Lebensversicherer und Krankenkassen für sein Produkt. «Mit den digitalen Geräten bleibt das Solidaritätsprinzip bestehen, auf dem die Versicherungswirtschaft basiert.» Es sei unbestritten, dass kranke Menschen gut versichert sein müssen, sagt er. Aber: «Es ist nicht solidarisch, wenn jemand, der viel Sport treibt und auf seine Gesundheit achtet, gleich hohe Prämien zahlen muss wie einer, der raucht, trinkt und keinen Sport treibt.»

Rund ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung ist heute laut Schätzungen zu dick. Allein in der Schweiz betragen die Folgekosten von Übergewicht gemäss Bundesamt für Gesundheit jährlich acht Milliarden Franken (siehe Box auf Seite 2). 2002 waren es noch 2,7 Milliarden Franken.

«Wir können uns die laufend steigenden Gesundheitskosten nicht mehr leisten», sagt Ohnemus. Der Konsument sei nicht mehr bereit, die jährlichen Prämienerhöhungen hinzunehmen. «Die Krankenkassen gehen bankrott», sagt er. Für die Zukunft schweben ihm deshalb drei Krankenkassenmodelle vor:

  • Das bisherige Modell. Der Versicherte reicht keine persönlichen Gesundheitsdaten ein – und zahlt mehr Prämien.
     
  • Eine indexbasierende Versicherung. Der Versicherte übermittelt der Krankenkasse viermal jährlich Daten zu seinem Lebensstil. Stellt sich bei der Kontrolle heraus, dass der Kunde regelmässig Sport treibt und sich gesund ernährt, bekommt er dafür eine Prämiengutschrift.
     
  • Daten gegen Versicherung. Der Versicherte reicht laufend alle Daten ein und bezahlt im Gegenzug deutlich weniger Prämien.

Fitnessarmbänder wie Fitbit oder Jawbone seien erst der Beginn einer Re­volution im Gesundheits­wesen, glaubt Ohnemus. «Irgendwann werden wir uns einen Nano-Chip implantieren lassen, der uns ständig überwacht und sämtliche Daten an eine Zentrale übermittelt.»

Damit die Daten nicht irgendwo versickern, sondern auch für den Erfassten ersichtlich bleiben, will ETH-Professor Ernst Hafen (59) zusammen mit seinem Verein «Daten und Sicherheit» in der Herbstsession ein Postulat einreichen. «Dass Daten gesammelt und verbreitet werden, können wir nicht verhindern. Aber wir können ein Recht auf Kopie einfordern», sagt er. Damit wäre für jedermann ersichtlich, welche Daten wo gespeichert wurden – ein entsprechendes Recht auf Dateneinsicht würde in der Verfassung festgeschrieben.

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