Die heutige Delegiertenversammlung (DV) von Raiffeisen Schweiz in Lugano TI könnte ein schönes Ausflügli für die 164 Abgesandten sein: ein Rekord-Jahresergebnis 2017 im Rücken – und es herrscht Badi-Wetter.
Die Stimmung, wenn sich die Delegierten aus allen Ecken der Schweiz um 8.30 Uhr im Kongresszentrum direkt am See treffen werden, ist aber von Krise und Chaos geprägt. Sie müssen den Scherbenhaufen zusammenkehren, der sich nach dem Fall ihres Ex-Königs Pierin Vincenz (62) aufgetürmt hat.
Bloss, sind sie überhaupt die Richtigen dafür? «Vielen Delegierten fehlt die Unabhängigkeit, entweder weil sie Angestellte von Raiffeisenbanken sind, oder weil sie mit solchen Aufgaben schlicht überfordert sind», kritisierte Marc Kaeslin (65), Verwaltungsratspräsident der Raiffeisenbank Horw LU gestern im BLICK. Er boykottiert die DV in Lugano.
Stimmt, sofern sich das überprüfen lässt. Zwar wird die Liste der Delegierten unter Verschluss gehalten. Doch jene Delegierten, mit denen BLICK Kontakt hatte, sind in der Tat alle VR-Präsidenten oder Geschäftsleiter lokaler Raiffeisenbanken.
Vincenz erholt sich an einem geheimen Ort
Kurt Sidler (63), Präsident des Raiffeisen-Regionalverbandes Luzern, Ob- und Nidwalden und einer der wichtigsten Delegierten in Lugano, fand diese Vorwürfe im Gespräch am Seeufer gestern nicht fair: «Genau diese Mischung aus Bank-Angestellten und VR-Mitgliedern aus anderen Wirtschaftssektoren garantiert eben, dass der Bankspitze richtig auf die Finger geschaut wird.»
Pierin Vincenz erholt sich derweil an einem geheimen Ort von seinen über drei Monaten U-Haft. Erst vergangenen Dienstag wurde er freigelassen (BLICK berichtete). Er soll sich mit Hinterzimmer-Deals unter dem Raiffeisen-Dach die Taschen gefüllt haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Alle brisanten Punkte heute drehen sich um sein Erbe: Erstens die Ergebnisse der Raiffeisen-internen Untersuchung der rund 100 Vincenz-Deals. Zweitens die Opposition gegen die 40-Prozent-Lohnerhöhung, die der VR trotz Imagekrise eingestrichen hat. Eine sogenannte Décharge, also eine Entlastung des VR und der Geschäftsführung durch die Delegierten, obwohl die Finanzmarktaufsicht (Finma) den VR am Donnerstag in ihrem Bericht als quasi blind dargestellt hat, soll es jedenfalls nicht geben. Das habe der Verwaltungsrat laut «Tagesanzeiger» am Freitag in einer ausserordentlichen Sitzung so beschlossen.
Korrektur: In einer ersten Version dieses Artikels hat es geheissen, dass der Kongress im Kulturzentrum Lugano Arte e Cultura (LAC) stattfindet.