Der Sozialethiker Hans Ruh über Gier und Masslosigkeit – auch bei der Raiffeisen
«Genug ist nie genug»

Für Sozialethiker Hans Ruh ist Masslosigkeit das Grundproblem des Menschen. Er ist überzeugt: Die Gier der Topmanager zerstört den Anstand überall.
Publiziert: 05.03.2018 um 17:05 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2022 um 14:46 Uhr
Hans Ruh (85) war Professor an den Theologischen Fakultäten der Unis Bern und Zürich. Den Winter verbringt er oft in der Wohnung seiner Partnerin in Arosa GR:
Foto: Anja Wurm
Interview: Aline Wüst

Masslosigkeit kann man ihm nicht vorwerfen, zumindest bei der Bündner Nusstorte nicht: Hans Ruh, einer der führenden Sozialethiker der Schweiz, nimmt nur ein klitzekleines Stück vom Gebäck. Das ist gut. So bleibt mehr Zeit, über Gier, Gott und Anstand zu sprechen. Und dies mit Blick über die Bündner Bergwelt – Pierin Vincenz’ Heimat. Wir treffen Hans Ruh in Arosa GR.

BLICK: Sie sind nun 85 Jahre alt. Wie wichtig war Geld in Ihrem Leben?
Hans Ruh:
Geld ist sehr wichtig, auch für mich. Es ist ein zentrales Element des menschlichen Lebens.

Ist es das Wichtigste?
Das sicher nicht. Aber Geld ist gottähnlich.

Nun spricht der Theologe in Ihnen.
Der Philosoph Georg Simmel hat das gesagt. Geld ist allmächtig. Denn es ist immer und überall verfügbar. Wie Gott. Es ist wichtig. Und darum gefährlich.

Unter Pierin Vincenz legten die Einkommen der Raiffeisen-Banker massiv zu.
Foto: KEY

Pierin Vincenz hat bis zu 7000 Franken am Tag verdient. Und wollte offenbar trotzdem mehr. Warum?
Schon Aristoteles sagte, dass Masslosigkeit etwas vom Schlimmsten ist. Der Begriff des Masses ist zentral bei Griechen, Römern und in vielen Religionen. Denn der Mensch ist tendenziell masslos. Genug ist nie genug.

Wir sind gierig.
Es ist eine uralte menschliche Erfahrung. Wir haben keinen eingebauten Apparat, der sagt: Jetzt ist genug. Ein Baum weiss, wann er fertig ist. Der Hund will nicht immer mehr.

Sie sagen also, in jedem von uns stecke ein kleiner Pierin Vincenz?
Prinzipiell schon. Wir Menschen sind gefährdete Wesen, weil wir in unserem Tun einen höheren Grad an Freiheit haben als alle anderen Lebewesen. Deshalb kommt es darauf an, wie wir uns entscheiden. Oft kippt bei den meisten Menschen irgendwann der Schalter, wenn sehr viel Geld da ist.

Kippt der Schalter, ist auch die Selbstkritik weg. Warum?
Wer Geld und Macht hat, bekommt Bewunderung. Das führt dazu, dass man irgendwann davon überzeugt ist, in einer anderen Liga zu spielen als der Rest. Man glaubt sich über Regeln hinwegsetzen zu können. Der Mensch muss sich Grenzen selber schaffen.

Da kommt die Ethik ins Spiel. Sie sind Verfechter eines ethischen Managements. Allzu viel will man davon in der Wirtschaft aber nicht wissen.
Ich habe in der Finanzkrise sowohl der Credit Suisse wie auch der UBS einen Brief geschrieben und gesagt: Was ihr jetzt braucht, ist ein ethisches Managementsystem. Beide haben dankend abgelehnt mit der Begründung, sie hätten genug Ethik im Haus.

Sie haben auch schon mit Pierin Vincenz darüber gesprochen. Was meinte er dazu?
Er fand, das sei gut und recht mit dieser Ethik, aber auch ein bisschen naiv.

Ist es nicht tatsächlich naiv?
Ethisches Verhalten in der Wirtschaft kann Erfolg bringen. Es fördert die Reputation und ist attraktiv, weil es dem Empfinden vieler Menschen entspricht.

Ist Gier nicht eine Triebfeder, welche die Menschheit weitergebracht hat?
Vielleicht hat die Gier etwas Positives. Adam Smith hat mit seiner Theorie der unsichtbaren Hand ja gesagt, dass das Wohl des gesam-ten Volkes gefördert wird, wenn jeder seine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt. Das steht in seinem bekannten Buch «Wohlfahrt der Nationen». Er hat ein zweites Buch geschrieben, das kaum einer kennt.

Und was steht dort?
Dass es neben der unsichtbaren Hand auch noch den unparteiischen Zuschauer in der Brust gibt, der piepst, wenn ich etwas Unrechtes tue. Ich finde das grossartig. Er sagt damit: Wenn Gerechtigkeitsempfinden und Streben nach wirtschaftlichem Erfolg zusammen die Geschicke lenken, kommt es gut. Bloss regiert heute der Neoliberalismus. Das heisst Deregulierung. Und das bedeutet, das piepsende Gerechtigkeitsempfinden in unserer Brust zum Schweigen zu bringen. Das ist das Drama der heutigen Zeit.

Was hat es für einen Einfluss auf die Gesellschaft, wenn die Elite Profit über Anstand setzt?
Wenn diese Topmanager solche Löhne haben und sich über das Gesetz erheben, denke ich mir als normaler Bürger doch: Wenn die das tun, kann ich das auch. Sie zerstören also Anstand und Ethik.

Aber wir empören uns doch über hohe Löhne.
Viel zu wenig. Es müsste Aufstände geben. Aber alle Initiativen, die diese Löhne begrenzen wollten, scheiterten. Das ist die grösste Leistung der herrschenden Klasse. Sie konnte die untere und mittlere Schicht glauben machen, dass es ihnen schlechter geht als vorher, wenn diese Lohnunterschiede eingeebnet werden. Sie sagen uns: Wisst ihr, das muss so sein, sonst funktioniert die Wirtschaft nicht. Das ist eine Sauerei par excellence. Sie argumentieren mit Angst.

Treibt Topmanager die Gier an, uns der Neid?
Nein! Das macht mich wütend. Auch bei Vincenz hiess es zu Beginn: Jetzt kommen die Neider. Aber das ist wieder eine Strategie, und zwar eine perfide. Bei dieser Idee von der Neidgesellschaft geht es doch nur darum, Leute, die diese Zustände kritisieren, mundtot zu machen.

Geld sei nicht das Wichtigste in Ihrem Leben, sagen Sie. Wissen Sie denn mit 85 Jahren, was das Wichtigste im Leben ist?
Das gute Zusammenleben mit anderen Menschen.

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