Kostenexplosion bei Schweizer Spezialärzten: Zwischen Oktober 2014 und März 2015 haben Spezialisten bestimmte technische Leistungen über zehn Prozent häufiger angeordnet als im Vorjahr. Sie haben damit das Wachstum der Gesundheitskosten zusätzlich befeuert. Das zeigen Zahlen, die das Bundesamt für Gesundheit auf Anfrage von SonntagsBlick offenlegt.
Die Kosten dieser Mengenausweitung sind massiv. Der SP-Gesundheitspolitiker Jean-FranÇois Steiert (54) beziffert sie mit bis zu einem Prämienprozentpunkt. «Pro Jahr dürfte das zwischen 100 und 200 Millionen Franken ausmachen», schätzt der Freiburger Nationalrat.
Die Rechnung zahlen die Prämienzahler!
Hintergrund der Mengenausweitung: Unter Ärzten klaffen die Einkommensverhältnisse weit auseinander. Spezialisten wie Augenärzte, Magen-Darm-Experten oder Radiologen kassieren rasch über 300 000 Franken pro Jahr, die Mehrheit der Hirnchirurgen verdient gar über 405 000 Franken. Vergleichsweise mager ist da der Zahltag von Haus- und Kinderärzten. Bei vielen beträgt das Einkommen nur einen Bruchteil der Spezialisten-Saläre.
Auch wegen dieser Einkommensschere ist die Schweiz überversorgt mit teuren Spezialisten, doch bei der Grundversorgung herrschen teils gravierende Mängel.
Im Sommer 2014 griff der Bundesrat ein. Er setzte durch, dass Haus- und Kinderärzte für jede Grundkonsultation rund neun Franken zusätzlich erhalten. Zugleich kürzte er die Tarmed-Entschädigung (siehe Box) für gewisse technische Leistungen, die primär von Spezialärzten angeboten werden und die dank technologischem Fortschritt heute günstiger sind als früher. Zu diesen Leistungen zählt etwa die Röntgenuntersuchung.
Das Ziel der Landesregierung lautet: Die Besserstellung der Grundversorger sollte kostenneutral bleiben. Also nicht auf dem Buckel der Allgemeinheit stattfinden.
Doch der Bundesrat hat die Rechnung ohne die Spezialärzte gemacht. In den ersten sechs Monaten unter dem neuen Tarifregime hat sich die Tarifkürzung bei ihnen nicht in tieferen Einkommen niedergeschlagen. Während Grundversorger deutlich weniger sogenannte Taxpunkte für die um 8,5 Prozent gekürzten technischen Leistungen verrechneten (–6,4 %), setzte sich bei Spezialisten auch in diesem Bereich ein Kostenwachstum fort (+0,9 %). Das heisst: Die Spezialisten haben die Tarifsenkung durch eine Mengenausweitung überkompensiert.
Sie schickten etwa mehr Patienten zum Röntgen. Auch wenn dies medizinisch nicht angezeigt war. BAG-Sprecherin Michaela Kozelka sagt: «Die Tarifanpassung hätte bei den Spezialisten eigentlich einen Rückgang der verrechneten Taxpunkte zur Folge haben müssen.» Doch auch in jenen Bereichen, in welchen die Taxpunkte gekürzt wurden, sei das Volumen weiter angestiegen. «Das ist nur möglich, wenn die Spezialisten erheblich mehr gekürzte Leistungen verrechnen.»
Verena Nold (53), Direktorin des Krankenkassenverbands Santésuisse, kritisiert das Verhalten der Spezialärzte: «Sie haben die Leistungskürzung mit einer generellen Mengenausweitung kompensiert. Das ist schlecht. Die Rechnung zahlen letztlich die Versicherten.»
Für SP-Mann Steiert stehen einerseits die Krankenkassen in der Verantwortung. «Sie schauen jenen Ärzten, die immer mehr Leistungen verrechnen, nicht genügend auf die Finger.» Anderseits müsse die Politik reagieren. «Weil FDP und SVP in der Wintersession den Ärztestopp versenkt haben, droht der Schweiz ab Juni eine neue Spezialärzteflut.» Das Parlament müsse seinen Fehler korrigieren und den Zulassungsstopp verlängern, fordert Steiert. «Nur so kann ein Kostenschub verhindert werden.»
Anderer Meinung ist Santésuisse-Direktorin Verena Nold. «Das Problem ist: Den Kassen fehlen wichtige Informationen, um verrechnete Leistungen systematisch zu hinterfragen.» Zudem sei die Verlängerung des Zulassungsstopps nicht das überzeugendste Mittel gegen neue Kostenschübe im Gesundheitswesen. «Sinnvoller wäre es, die Ärztetarife dort zu reduzieren, wo eine Überversorgung vorliegt. Also vorab in den Städten und Zentren. Damit könnte die Anziehungskraft der Schweiz für ausländische Spezialisten nachhaltig eingeschränkt werden», sagt die Chefin des Krankenkassen-Verbands.
Immerhin: Bei den Grundversorgern hat der Bundesrat das mit der Tarifanpassung angestrebte Ziel erreicht. In den ersten sechs Monaten unter dem neuen Tarifregime haben Haus- und Kinderärzte spürbar mehr Lohn für ihre Arbeit erhalten.
Von der einfachen Sprechstunde bis zum hochkomplexen ambulanten Eingriff: Rechnen Ärzte Leistungen für ihre Patienten ab, wenden sie dabei die Tarmed-Tarifstruktur an. Sie definiert für über 4600 verschiedene Leistungen, wie viele sogenannte Taxpunkte sich ein Arzt gutschreiben lassen kann. Daraus wird schliesslich der Geldwert einer Leistung errechnet. Dieser ist allerdings je nach Kanton unterschiedlich. Die Tarmed-Tarifstruktur ist seit 2004 in Kraft. Anpassungen der Tarife obliegen grundsätzlich den Ärzten, den Spitälern und den Krankenkassen. Können sich die Tarifpartner nicht einigen, kann der Bundesrat einseitig Korrekturen durchsetzen. So geschehen 2014, als der Bundesrat einen Zuschlag für Grundkonsultationen einführte und die Grundversorger gegenüber den Spezialisten aufwertete.
Von der einfachen Sprechstunde bis zum hochkomplexen ambulanten Eingriff: Rechnen Ärzte Leistungen für ihre Patienten ab, wenden sie dabei die Tarmed-Tarifstruktur an. Sie definiert für über 4600 verschiedene Leistungen, wie viele sogenannte Taxpunkte sich ein Arzt gutschreiben lassen kann. Daraus wird schliesslich der Geldwert einer Leistung errechnet. Dieser ist allerdings je nach Kanton unterschiedlich. Die Tarmed-Tarifstruktur ist seit 2004 in Kraft. Anpassungen der Tarife obliegen grundsätzlich den Ärzten, den Spitälern und den Krankenkassen. Können sich die Tarifpartner nicht einigen, kann der Bundesrat einseitig Korrekturen durchsetzen. So geschehen 2014, als der Bundesrat einen Zuschlag für Grundkonsultationen einführte und die Grundversorger gegenüber den Spezialisten aufwertete.