Sicher, hinter dem Stacheldraht, drinnen im Kongresszentrum, trafen sich wie eh und je die klugen Köpfe, redeten offen, verfolgten das hehre Ziel, etwas zu bewirken, die Welt zu verbessern. Als «Geist von Davos» bezeichnet Gründer Klaus Schwab (76) dieses Flickwerk aus Gedanken und Ideen.
Doch dieses Jahr war flau, die Stimmung gedrückt. Probleme statt Chancen standen im Vordergrund. Unsicherheit ist die neue Normalität. Und das macht selbst die Mächtigen der Welt müde. Über Probleme statt über Chancen zu reden, inspiriert nicht.
Der anhaltende Konflikt in der Ukraine zermürbte viele, ebenso die Flüchtlingskrise, die fehlenden Antworten auf den islamistischen Terrorismus. Die Billionen-Schwemme von EZB-Präsident Mario Draghi (67) verdeutlichte die Fragilität Europas. Das Ende des Euromindestkurses versetzte manchen Schweizer Manager in Panik.
«Ich weiss es nicht», war eine der häufigen Antworten auf die Frage, wie gut oder wie schlecht das Jahr 2015 werde. Unsicherheit aber ist Gift für die Wirtschaft
Das WEF 2015 in Stichworten
- Die grosse Heuchelei: US-Aussenminister John Kerry (71) und Frankreichs Präsident François Hollande traten vereint gegen islamistischen Terrorismus an, für Freiheit und Frauenrechte. Gleichzeitig erwiesen sie dem eben verstorbenen König Abdullah (†90) von Saudi-Arabien ihre Ehre. Saudi-Arabien peitscht Regimekritiker aus, köpft Homosexuelle und finanziert viele Moscheen, die als Brutstätten des Terrors gelten.
- Der befreiende Kuss: Am Mittwoch herzten sich der Präsident der Schweizerischen Nationalbank, Thomas Jordan (51), und die Direktorin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde (59). Kurz zuvor hatte sich Lagarde in einem amerikanischen TV-Interview noch bitter über ihn beklagt – weil er sie nicht vorab über die Aufhebung des Mindestkurses informiert hatte. Ein Küsschen auf die Wange
- Das beste Zitat gab der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore von sich. «Der Vatikan möchte das erste CO2-neutrale Land der Welt werden. Die Chancen sind nicht schlecht. Es ist ein kleines Land – und es hat Gott auf seiner Seite.»
- Die leeren Stühle: Vor einem Jahr riss US-Aussenminister John Kerry das WEF-Publikum regelrecht von den Stühlen. Tosender Applaus erntete er für eine mutige Rede und die Ankündigung, Frieden im Nahen Osten sei «greifbar». Nun kam Kerry erneut – und sprach vor vielen leeren Stühlen. Der Nahe Osten ist weit entfernt von Frieden. Kerry wirkte müde, seine Rede matt, der Funke sprang nicht aufs Publikum.
- Ein Treffen mit Wirkung: Ein sehr reicher Philanthrop aus Nordamerika traf sich mit einem sehr reichen europäischen Philanthrop. Sie wollen künftig zusammen arbeiten und die Welt verbessern – und baten diesen Reporter, ihren Namen noch nicht zu verraten.
- Die grösste Überraschung aus Schweizer Sicht kam von US-Spekulant George Soros (84). Er sagte, ausländische Staatsfonds hätten die Schweizerische Nationalbank gebeten, den Euromindestkurs aufzugeben. «Die Staatsfonds gingen direkt zur Nationalbank und haben sie gebeten, aus dem Mindestkurs auszusteigen und den Franken wieder dem freien Markt auszusetzen», sagte der Devisenexperte. «Das hat der Nationalbank aufgezeigt, dass sie sehr schnell handeln musste.»
- Der ehrlichste Politiker: Der serbische Premierminister Aleksandar Vucic war in den neunziger Jahren Propaganda-Minister von Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic (1941 – 2006). Wie kann er da das Gesicht eines neuen, modernen Serbiens sein? «Es fällt mir nicht schwer, Fehler einzugestehen», sagte er im WEF-Interview. «Damals in den Neunzigerjahren sah ich die Welt anders, und ich lag falsch. Ich habe gesündigt, wie andere Menschen auch.»
- Die Vision: Ken Goldberg von der amerikanischen University of Berkeley redete über Operationsroboter, die über die Datenwolke gesteuert werden. Seine Vision: Patient XY liegt in Boston, braucht eine komplizierte Operation. Seine hoch spezialisierten Ärzte arbeiten in Mumbai, Kapstadt und Zürich – und steuern über das Internet gemeinsam einen Roboter, der XY operiert.
- Der beste Ort für Gespräche: Davos während des WEF ist eng, Raum und Zeit sind kostbar. Tausende von Franken verlangen Hoteliers, um eine Suite für ein halbstündiges Treffen zu reservieren. Die besten Gespräche aber finden in den kostenlosen Shuttle-Bussen statt. Fünf sich vorher fremde WEF-Gäste kommen darin zufällig zusammen, palavern 20 Minuten intensiv, tauschen Visitenkarten aus und trennen sich wieder. Die besten Speed-Dates dieses Reporters: Die Sprecherin von Währungsfonds-Direktorin Christine Lagarde, die Chefin eines französischen Energiekonzerns, der Premierminister von Luxemburg.
- Beste Party: Die indische Nacht im Hotel Morosani Schweizerhof. Die Gastgeber ziehen traditionelle Gewänder an, stehen andächtig vor dem Eingang und begrüssen jeden Gast einzeln. Der Raum ist gross genug, um in Ruhe mit spannenden Menschen zu palavern – und das indische Essen ist ausgezeichnet.
- Das beste Gerücht: Früher gaben sich Superstars wie Mick Jagger (71) und Bono (54) in Davos die Klinke in die Hand. Seit ein paar Jahren verzichtet das WEF, ganz grosse Stars nach Davos zu locken. Kommen darf nur, wer wirklich Gutes tut. Glaubhaft schien daher das Gerücht, Regisseurin und Uno-Sonderbotschafterin Angelina Jolie (39) treffe sich in Davos mit Microsoft-Gründer Bill Gates (59). Es blieb beim Gerücht.
- Rabiat: Der englische Prinz Andrew (54) gibt seit Jahren am WEF einen Empfang. Nun hat ihn ein Sexskandal negativ in die Schlagzeilen gebracht. Umso nervöser agierte seine Entourage. Die Schweizer Polizistin, die ihn bewachte, schlug dem SonntagsBlick-Fotografen die Kamera aus den Händen. Es sei ihr Auftrag, Fotos zu verhindern, verteidigte sie sich. Ein Foto gab es trotzdem.
- Mutig: Ali Tarhouni (63, Bild) führte die Revolution gegen den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi (1942–2011) an, war zwischenzeitlich libyscher Premierminister. Nun leitet er den Ausschuss, der eine neue libysche Verfassung schreiben soll. In Davos suchte er Geld, um das Projekt zu finanzieren. Zwar sei Libyen eines der reichsten Länder der Welt, aber es falle auseinander. Schon sieben Bombenanschläge überlebte er. Oft hat er keinen Strom für Computer. Mitglieder des Ausschusses schmuggelt er über die Grenze.