Frau Bundespräsidentin, zuerst der Besuch des chinesischen Staatspräsidenten, dann ein Gesprächsmarathon am WEF. Sie haben eine stressige Woche hinter sich.
Doris Leuthard: Ja, es fing schon am Sonntagmorgen an. Irgendwann spürt man dann die Anstrengung. Aber ich bin mir das gewohnt. Wahnsinnig viel schlafe ich nie. Die Herausforderung ist, immer die Konzentration zu bewahren bei all den Gesprächen. Was darf man sagen, was besser nicht? Da hilft mir meine Routine.
Sie haben den chinesischen Präsidenten Xi Jinping getroffen, den zweitmächtigsten Politiker der Welt. Welchen Eindruck haben Sie von ihm?
Ich glaube, er hat sich wohlgefühlt bei uns. Schon im Zug von Zürich nach Bern machte er einen entspannten Eindruck. Die Sicherheitsleute haben angesichts der hohen Anforderungen einen guten Job gemacht.
Die Polizei ging rigoros vor. 30 Leute wurden festgenommen, die Anwohner wurden aufgefordert, Tibet-Fahnen von ihren Fenstern zu nehmen, damit Xi nichts mitbekommt. Geht man da nicht zu weit?
Die Schweiz hat eine Demonstration bewilligt, die Meinungsäusserungsfreiheit wurde nicht beschnitten. Das gehört zur Schweiz. Für China sind die Tibeter Mitglieder der Volksrepublik China.
Xi Jinping hat sich am WEF für Freihandel und Globalisierung eingesetzt. Der neue US-Präsident Donald Trump will Freihandelsabkommen kündigen. Die Kommunisten verteidigen den Kapitalismus, die USA wollen ihn abschaffen. Spielt die Welt verrückt?
Die Chinesen haben gesehen, welche Chance sich ihnen in der Weltpolitik bietet, und nutzen sie. Wenn es nicht nur eine Supermacht gibt, sondern auch eine zweite Macht, ist dies gut für die Schweiz und die Welt.
Kann denn ein kommunistisches Land der Garant für eine offene Welt sein?
Ich will nicht den Kommunismus verteidigen, aber wenn die Chinesen ein Wachstumsmodell haben, vom dem die breite Bevölkerung profitiert, ist das positiv. So hat die Idee der offenen Märkte bei der Bevölkerung eine Chance. Aber die Chinesen haben in verschiedenen Bereichen Nachholbedarf. Wir haben zwar ein Freihandelsabkommen mit China, dennoch beklagen sich Schweizer Firmen über Hindernisse beim Marktzugang und die Bürokratie in China.
Bis jetzt haben zu offenen Märkten auch Demokratie und Menschenrechte gehört. Die Chinesen sehen das anders. Haben Sie mit Xi darüber geredet?
Ja, entgegen der verbreiteten Meinung kann man mit den Chinesen über solche Dinge gut reden. Das Thema Menschen- und Minderheitsrechte machte einen substanziellen Teil der offiziellen Gespräche aus. Die Chinesen sind sich der Problematik bewusst, haben aber ein anderes Bild davon. Sie sehen die Menschenrechte weniger individuell als kollektiv. Die Zahl der Armen ist in China in den letzten Jahren von 400 Millionen auf 50 Millionen gesunken. Der Mehrheit der Menschen geht es besser. Das ist eine grosse Leistung, aber keine Rechtfertigung, Menschen aus politischen Gründen zu inhaftieren. Wenn man dies anspricht, hören die Chinesen zwar zu, aber hier ist der Weg für Fortschritte noch weit.
«Es ist unklar, ob seine wichtigsten Berater seine Tochter, sein Schwiegersohn oder die Minister sind»
Demokratie steht weltweit unter Druck. Der neue US-Präsident Donald Trump zeigt wenig Respekt für demokratische Institutionen. Was erwarten Sie von ihm?
Dass er sich bewusst ist, dass die USA eine Weltmacht sind. Man weiss nicht, wie Donald Trump die militärische Rolle der USA wahrnehmen wird und ob die USA unter ihm noch ein Garant für Stabilität sind. Trump hat nun auch den Code für die Nuklearwaffen.
Macht Ihnen das Angst?
Angst nicht, aber ich habe Respekt. Ich zähle darauf, dass er sich seiner grossen Verantwortung bewusst ist.
Trump hat in seiner Antrittsrede klargemacht, dass es ihm ernst ist mit Protektionismus. Was bedeutet dies für die Schweiz?
Je nachdem, wie die konkreten Massnahmen dann aussehen werden, wird das sowohl der Weltwirtschaft als auch der Schweiz schaden.
Glauben Sie, dass er sich von seinen Ministern zähmen lässt?
Es ist unklar, ob seine wichtigsten Berater seine Tochter, sein Schwiegersohn oder die Minister sind. Aber man muss Präsident Trump nun starten lassen. Ein Wahlkampf ist etwas anderes als die Amtsführung. Man wird schnell sehen, in welche Richtung es geht. Wenn er sich weiterhin so verhält wie im Wahlkampf, dann müssen wir uns Sorgen machen. Entscheidend sind aber nicht Ankündigungen, sondern Taten.
Ohne WEF hätte Xi Jinping die Schweiz kaum besucht. Hat das WEF auch Schattenseiten?
Keine Frage, das WEF ist sehr wichtig für die Schweiz. Es bringt uns auf die Landkarte der internationalen Politik. Wir treffen Staatspräsidenten, die wir sonst nicht zu Gesicht bekommen würden. Aber der Aufwand für die Sicherheit und die Auswirkungen für die Bevölkerung sind sehr gross. Die Grenze des Wachstums ist erreicht. Das WEF darf nicht mehr grösser werden.
Haben Sie mit WEF-Gründer Klaus Schwab darüber gesprochen?
Ja, er sieht das Problem. Bei der Teilnehmerzahl ist das Maximum erreicht. Die Hotelkapazitäten sind erschöpft.
Mit Trump und Brexit ist die Kritik an der Globalisierung im Zentrum der westlichen Welt angekommen. Hat das WEF diese Entwicklung verschlafen?
Der damalige Ex-Vize Joe Biden hat letztes Jahr bei der Eröffnung genau das Problem angesprochen, dass der Mittelstand den Anschluss verliert.
Aber niemand nahm ihn ernst.
Die Wirtschaftsführer stehen stark unter dem Druck der Finanzmärkte. Sie delegieren die Lösung von sozialen Problemen an die Politik. Das reicht nicht. Die Wirtschaft tut zu wenig. Die Unternehmen müssen einen Beitrag leisten, damit es weniger Arbeitslose gibt und die negativen Folgen der Digitalisierung aufgefangen werden können.
Wie reagieren die Manager darauf?
Nicht alle wollen die Botschaft hören. Aber man muss mit den Unternehmen Klartext reden. Sie können nicht nur tiefe Steuern und optimale Rahmenbedingungen fordern. Sie müssen sich auch an den Lösungen beteiligen. Die Schweizer Unternehmen machen das. Sie engagieren sich für Weiterbildung, Forschung und Nachhaltigkeit.