Ein Lifestyle-Accessoire sollte es werden: das Hörgerät. Darauf hofft die Branche schon seit über zehn Jahren – vergebens. Im Gegensatz zur Brille hat es die Hörhilfe nie geschafft, dem Stigma zu entkommen. Sei es Verdrängen oder ein gewisses Schamgefühl: Nur ein Bruchteil derjenigen, die eigentlich ein Hörgerät benötigen, besitzt tatsächlich eines. Nun schöpft die Branche neue Hoffnung. Viele der Babyboomer kommen in ein Alter, in dem das Gehör merklich nachlässt. Diese Generation ist an technischen Gadgets interessiert. Das eröffnet der Industrie einen neuen Zugang zu einer Zielgruppe mit einem beträchtlichen Potenzial.
Nicht dass es der Branche generell an Nachwuchs fehlen würde. Allein schon die demografische Entwicklung spiele der Branche in die Hände, sagt die auf Life Sciences spezialisierte Vontobel-Analystin Sibylle Bischofberger. «Die älter werdende Bevölkerung sorgt für ein stetiges Marktwachstum von drei bis fünf Prozent.» Das Tempo nimmt zu. Laut Schätzungen der UNO wird sich die globale Bevölkerung im Alter von über 60 Jahren bis zum Jahr 2050 voraussichtlich verdoppeln.
Der Wermutstropfen: Die Betroffenen mit Hörschaden warten meist über sieben Jahre, bevor sie sich ein Gerät anschaffen. Das Durchschnittsalter der Nutzerinnen und Nutzer verharrt seit Langem bei rund 70 Jahren. Genau analysiert diese Entwicklung der Schweizer Hörgerätehersteller Sonova als weltweiter Marktführer. Das in der Schweiz für seine Phonak-Geräte bekannte Unternehmen könnte viel mehr verkaufen, wenn die Hemmungen der Kundschaft gegenüber Hörhilfen fallen würden. «In den Industrieländern liegt der Verbreitungsgrad zwischen 20 und 35 Prozent», sagt Sonova-CEO Arnd Kaldowski. Das heisst: Nur rund ein Viertel der Menschen in Industrieländern, die schlecht hören, tun etwas dagegen.
Apple als Einstiegshilfe
Ein Unternehmen, das aus einer anderen Ecke kommt, könnte dazu beitragen, dass dieser Anteil endlich steigt und das Durchschnittsalter der Kundschaft sinkt. Apple hat mit seinen AirPods dafür gesorgt, dass kabellose Geräte im Ohr zum Alltagsbild gehören. Dabei verfügen die Stöpsel über Optionen, die bei Gesprächen in öffentlichen Räumen den Lärm unterdrücken und die Konversation mit dem Gegenüber verstärken. Die Hoffnung der Hörgeräteindustrie: Wer diese Funktion nutzt, wird langsam an die Vorteile eines medizinischen Hörgerätes herangeführt. Denn der Gesprächsbooster von AirPods und Co. hilft nur zu Beginn, wenn das Hörvermögen langsam abnimmt. Es zeichnet sich zudem nicht ab, dass Giganten wie Apple in den Bereich der medizinischen Geräte vorstossen wollen. Eine zunehmend technikaffine Kundschaft stimmt Arnd Kaldowski zuversichtlich: «Die Babyboomer werden immer offener für neue Technologien. Daher sehen wir das Potenzial, dass die Akzeptanz von Hörgeräten weiter zunimmt und sich mehr und mehr Kunden damit anfreunden.»
Auch Lukas Schinko, CEO des Hörgerätespezialisten Neuroth, setzt auf die für die Branche verhältnismässig junge Kundschaft um die 60 Jahre als Wachstumssegment. «Die Industrie hat 15 Jahre lang versucht, das Hörgerät zum Modeartikel zu machen. Das hat nicht funktioniert», räumt er ein. «Das Hörgerät als technisches Gadget wird sich aber durchsetzen.»
Der Hörgeräteretailer hat jüngst die Übernahme der Migros-Tochter Misenso bekannt gegeben und ist damit zur Kette mit dem grössten Filialnetz in der Schweiz vor Amplifon aufgestiegen. Schon davor war die Schweiz für das österreichische Familienunternehmen der am schnellsten wachsende Markt. In hohem Tempo eröffnet das Unternehmen neue Geschäfte. Teilweise sind es neue Standorte, oft übernimmt Neuroth aber auch Geschäfte von unabhängigen Akustikern. Waren es im Juli 2022 noch 68 Neuroth-Filialen, sind es heute bereits 85. Mit Misenso, die als Marke bestehen bleibt, kommen nochmals über 25 Standorte hinzu.
Neuroth stellt selbst keine Geräte her, hat nun aber unter der eigenen Marke Viennatone eine neue Serie herausgebracht. Hersteller ist der Sonova-Konkurrent WS Audiology. Unterlegt von dem rockigen Song «Just the Way You Like It» der Band Guesthouse, zeigt der Werbespot für die neu lancierten Produkte dynamische grauhaarige Menschen. Das Wort «Hörgerät» wird durchgestrichen und durch «Upgrade» ersetzt. Die Botschaft ist klar: Eine Hörhilfe ist keine Prothese.
Lukas Schinko betont die praktischen Vorteile. «Wer einen eher geringen Hörverlust hat und ein Hörgerät verwendet, ist einem Normalhörenden überlegen», sagt der 38-Jährige. Telefongespräche sind über die Hörhilfe möglich, die Umgebungsgeräusche wie ein heranfahrendes Tram dringen dennoch durch. Wer sich an einer Konferenz im Publikum langweilt, kann diskret einen Podcast hören, und schon bald soll sich bei einem Dialog mit einem anderssprachigen Gesprächspartner standardmässig die simultane Übersetzung auf Wunsch einklinken. Der Neuroth-Chef ist überzeugt, dass die Branche mit solchen Features das negativ behaftete Image der Geräte endlich loswerden kann.
Sony und Bose mischen mit
Nicht alle Marktkenner sind so zuversichtlich. Vontobel-Analystin Sibylle Bischofberger verweist darauf, dass die Industrie schon seit 20 Jahren vergebens darauf hofft, dass das Hörgerät sein Stigma loswird. «Ich bin skeptisch, ob Gadgets wie AirPods dafür sorgen, dass die Akzeptanz von Hörgeräten steigt. Mit Kopfhörern ist man hip, mit dem Hörgerät alt.»
Die Industrie reagiert auf die fehlende Anziehungskraft ihrer Produkte derweil nicht nur mit technischen Features. Die Hörgerätehersteller machen gemeinsame Sache mit Unternehmen aus der Unterhaltungselektronik. Brands wie Bose und Sony sollen der Branche etwas mehr Ausstrahlung verleihen. In diese Richtung geht auch Sonova und hat 2022 das Kopfhörergeschäft des deutschen Herstellers Sennheiser übernommen. Das war die grösste Akquisition seit 2016. Unter der Marke Sennheiser verkauft Sonova seit vergangenem Jahr in den USA medizinische Hörgeräte, im sogenannten Over-the-Counter-Geschäft (OTC). Die Kundschaft kann diese im preislichen Einstiegssegment liegenden Produkte in Apotheken kaufen. Die amerikanische Gesundheitsbehörde hat dies 2022 zugelassen und damit einen interessanten Markt für die Industrie geöffnet. Sonovas grösster Konkurrent WS Audiology ist in den USA eine Partnerschaft mit Sony eingegangen. Bose bearbeitet den Markt ebenfalls. Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob das im Markt gut ankommt. Sonova probiert das Konzept auch ausserhalb von Nordamerika aus. Die OTC-Hörhilfen von Sennheiser sind seit Mai neben den USA auch in China auf dem Markt.
Die Schweizer bieten daneben auch Sennheiser-Kopfhörer zur Hörunterstützung als Einstiegslösung an. Gespräche in lauter Umgebung sind damit einfacher verständlich. Sonova steigt so in den Ring mit Apple. Sie will mit ihrem audiologischen Know-how gegen den Tech-Riesen bestehen. Die Grenzen zwischen klassischem Hörgerät und drahtlosen Kopfhörern mit Hörunterstützung verschwimmen immer mehr. Genau das sieht die Hörgerätebranche als Chance. Menschen, deren Gehör langsam schwächer wird, sollen so an deren medizinische Produkte herangeführt werden. «Die Wearables tragen heute schon viel dazu bei, dass ein Gerät im Ohr etwas völlig Normales ist», sagt Neuroth-Chef Lukas Schinko.
Sonova weckt Erwartungen
Mittlerweile kommen Hörgeräte in ansprechendem Design daher und sind je nach Modell im Ohr kaum sichtbar. Die für stärkere Hörverluste notwendigen Ausführungen hinter dem Ohr sind in den vergangenen Jahren in ihrer Grösse deutlich geschrumpft und verfügen häufig über Akkus statt Einwegbatterien. Vor über zehn Jahren waren die Hörgeräte schon so klein wie heute. Dann kamen Bluetooth und andere technische Features hinzu, und sie wurden zwischendurch wieder klobiger.
Die wichtigsten Player der Branche versuchen sich etwa alle zwei Jahre mit Innovationen zu übertrumpfen. Die in Stäfa im Kanton Zürich ansässige Sonova erzielte zuletzt einen Umsatz von 3,6 Milliarden Franken und liegt beim globalen Marktanteil knapp vor der dänischen WS Audiology. Der ebenfalls dänische Hersteller Demant und GN Resound sind weitere Grössen der Branche.
Voraussichtlich im Spätsommer wird Sonova ihre neueste Gerätegeneration vorstellen. Dabei hat der Marktleader die Erwartungen hoch nach oben geschraubt. Im Rahmen der jüngst veröffentlichten Geschäftszahlen 2023/24 stellte das Unternehmen «bahnbrechende Produkteinführungen» in Aussicht. Die Ankündigung spiegelt sich in den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Diese Kosten sind im abgelaufenen Geschäftsjahr im Vergleich mit 2018/19 um rund 60 Prozent auf 236 Millionen angeschwollen. Sonova steht nun unter Druck, in den kommenden Monaten zu liefern. Dabei kommt es auch auf den Preis an. Sonova blieb mit der letzten Gerätegeneration hinter den Erwartungen von Analysten, was den Absatz betrifft. «Sonova hatte mit den Lumity-Produkten zuletzt das technologisch beste Angebot. Doch die Produkte waren zu teuer und deshalb nicht sehr erfolgreich», sagt Vontobel-Analystin Bischofberger.
Zuletzt hat Konkurrent Demant vorgelegt. Eine Neuerung des Unternehmens erkennt, ob die Nutzerinnen und Nutzer ein Gespräch zu zweit führen oder ob sie sich in einer grösseren Gruppe mit oder ohne Geräusche im Hintergrund unterhalten, und passt sich der entsprechenden Situation in Echtzeit an.
Schliesslich geht es vielen Hörgeschädigten in erster Linie darum, sich in einer lauten Umgebung zu verständigen. In einer Bar mit Musik oder in Restaurants mit erhöhtem Geräuschpegel fällt es den Betroffenen schwer, sich auf eine Stimme zu konzentrieren oder Gesprächen in der Gruppe zu folgen.
Die Hersteller tüfteln laufend an weiteren Optimierungen für das Sprachverständnis bei erhöhtem Geräuschpegel. «Trotz aller Fortschritte, die in den letzten zehn Jahren gemacht wurden, gibt es noch einiges an Spielraum für weitere Verbesserungen», sagt Sonova-CEO Kaldowski. In diesem Bereich habe Sonova in letzter Zeit signifikante Investitionen in die Forschung und Entwicklung getätigt. «Wir erwarten daher in den kommenden Jahren eine Reihe von erheblichen Verbesserungen durch künstliche Intelligenz.»
Besser hören mit KI
Schon jetzt sind Features mit KI in den Geräten integriert. Sie helfen, die Geräuschkulisse, in der sich die Anwender bewegen, zu erkennen und die voreingestellten Programme besser und schneller anzupassen. In Zukunft soll die Technologie direkt auf das Tonsignal zugreifen und damit das Sprachverständnis verbessern. Kein derzeit auf dem Markt befindliches Hörgerät nutzt KI bisher auf diese Weise.
Bleibt abzuwarten, welche bahnbrechenden Innovationen Sonova präsentieren wird und ob das Unternehmen damit neue Standards in der Anwendung von KI setzt. Die Analysten haben ihre Erwartungen für das laufende Geschäftsjahr nach der Ankündigung jedenfalls erhöht. Eine überzeugende nächste Hörgerätegeneration ist entscheidend, um die hohen Erwartungen zu erfüllen.
In den letzten zwei Jahren lief es dem Branchenprimus nicht immer rund. Im August 2022 brachen die Aktien nach einer Gewinnwarnung um mehr als zehn Prozent ein. Vor allem das für den Konzern wichtige US-Geschäft hatte enttäuscht. Auch in anderen Ländern verlor Sonova Marktanteile. Ausserhalb der Schweiz betreibt Sonova ein Retail-Verkaufsnetz. Auch dort lief es lau. Vom Kurssturz vor knapp zwei Jahren haben sich die Titel bis heute nicht erholt. Doch mit den im Mai veröffentlichten Geschäftszahlen hat sich die Stimmung der Investoren verbessert. Dazu beigetragen hat neben der selbstbewussten Ankündigung der nächsten Gerätegeneration auch der optimistische Ausblick. Das Umsatzwachstum soll im laufenden Jahr wieder im Bereich der angestrebten Bandbreite von sechs bis neun Prozent zu stehen kommen und die Profitabilität steigen.
Und wenn die optimistischen Prognosen von Neuroth-Chef Lukas Schinko eintreffen und sich die Kundschaft verjüngt, dann ist die Zukunft für die Industrie rosig. «Ich glaube, dass sich bis in zehn Jahren der Anteil derjenigen, die ein Hörgerät benötigen und auch tatsächlich eins verwenden, verdoppeln wird.» Das würde einen wahren Boomer-Boom für die Branche bedeuten.