Erlebt die Schweiz im Frühling 2021 dieselbe Geschichte wie im Herbst 2020? Wird die dritte Welle so massiv wie die zweite, wiederholen wir die Fehler von damals?
Die Ausgangslage ist vergleichbar: Im letzten Oktober gerieten Fallzahlen und schwere Erkrankungen ausser Kontrolle. Die Politik zauderte. Bund und Kantone schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu, appellierten erfolglos an die Selbstverantwortung der Bürger.
Der Schweizer Weg scheiterte krachend. Nach einem Hilfeschrei des Pflegepersonals folgte noch vor Weihnachten der Beizen-Lockdown. Mitte Januar war Ladenschluss. Erst die harten Eingriffe brachten die Fallzahlen herunter. Unter dem Strich verzeichnete die Schweiz im internationalen Vergleich eine heftige zweite Welle.
Nun steigen die Fallzahlen und Spitaleinlieferungen erneut. Und gleichzeitig schlägt die Schweiz mit ihren Lockerungen wieder einen Sonderweg ein. Führt er zum Ausstieg aus der Pandemie? Oder endet er im dritten Lockdown?
Für beide Szenarien gibt es Gründe. Negativ ins Gewicht fallen diese Faktoren:
Mutation ist gefährlicher
Die Pandemie 2021 ist nicht mehr dieselbe wie 2020. In der Schweiz ist die britische Virusvariante B.1.1.7 inzwischen dominant. Laut Taskforce-Chef Martin Ackermann (51) ist sie rund 50 Prozent ansteckender und gefährlicher als jene vom letzten Jahr. Das bedeutet: Das Virus breitet sich heute schneller aus und bringt mehr Leute ins Spital.
Schwere Fälle
Heute werden täglich zwischen 60 und 80 Menschen ins Spital eingeliefert, Tendenz steigend. Mit 250 Corona-Kranken – halb so viele wie in der zweiten Welle – sind die Intensivstationen zwar erst zu 70 Prozent ausgelastet. Einzelne Spitäler sind aber schon am Anschlag. In der zweiten Welle zeigte sich, dass ihnen das Personal fehlt, um auf Dauer Auslastungen von mehr als 75 Prozent zu stemmen.
Keine Herdenimmunität
Erst 8,5 Prozent haben einen vollständigen Impfschutz, von Herdenimmunität ist die Schweiz weit entfernt. Gemäss ihren neusten Modellen rechnet die Taskforce des Bundes damit, dass die dritte Welle selbst bei 100’000 Spritzen pro Tag bis im Juni gleich hoch ansteigen wird wie die zweite. Werden täglich nur 50’000 gepikst, rechnet sie mit 10'000 neuen Fällen am Tag. Mehr Kranke würden auf den Intensivstationen landen als in der zweiten Welle.
Das alles macht wenig Hoffnung. Erneute Verschärfungen erscheinen in diesem Szenario absehbar. Doch es gibt auch Anzeichen, dass es diesmal anders kommen könnte:
Übersterblichkeit ist vorbei
Die zweite Welle kostete in der Schweiz 8600 Menschenleben. Seit Ende Januar verzeichnet das Bundesamt für Statistik (BfS) keine Übersterblichkeit mehr. Von den über 65-Jährigen sterben weniger als in anderen Jahren, bei den Jüngeren liegt die Sterblichkeit am unteren Ende der Erwartungen. Vor diesem Hintergrund sind massive Einschränkungen der persönlichen Freiheiten schwierig zu rechtfertigen.
Hauptrisikogruppe bald geschützt
Corona ist ein ungerechter Feind, Alte sind viel verletzlicher als Junge. In der zweiten Welle waren weit über 90 Prozent der Toten über 70 Jahre alt. «Es hat sich gezeigt, dass das Alter der grösste Risikofaktor ist», sagt Christoph Berger (58), Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. Deshalb impft die Schweiz nun strikt nach Alter: «Das sollte uns helfen, dass im Vergleich zur zweiten Welle weniger schwere Fälle auftreten und die Spitäler weniger schnell voll sind.» Bei den über 80-Jährigen haben bereits 60 Prozent den vollen Impfschutz, bei den über 70-Jährigen 35 Prozent.
Lockdown nützt sich ab
Der Lockdown hat die erste Welle beendet und funktionierte auch in der zweiten. Doch Lockdowns haben eine begrenzte Wirksamkeit. Das zeigen die Erfahrungen in Deutschland, das mit ultraharten Massnahmen die zweite Welle zunächst sehr gut meisterte. Mit Verzögerung stiegen aber auch dort die Todesfälle, derzeit sind sie noch immer höher als in der Schweiz. Nun droht Merkel mit Ausgangssperren. Die Schweiz hat mit den Lockerungen immerhin eine Perspektive. Und was man nicht vergessen darf: Die Einschränkungen sind auch bei uns noch immer härter als im Herbst, als die Beizen offen waren und keine Maskenpflicht in Innenräumen galt.
Unter dem Strich halten sich Hoffnung und Bedenken die Waage. Die Pandemie ist ein Wettlauf gegen die Zeit, über Sieg und Niederlage entscheidet das Impftempo. Lieferverzögerungen wären verheerend. Ohne Rückschläge wird es nicht gehen. Spitäler und Pflegepersonal stehen vor dem nächsten Kraftakt. Doch gegen die Wand dürfte die Schweiz nicht fahren. Dazu sind die Risikogruppen schon zu gut geschützt.