BLICK-Autor bereiste die Balkan-Route
Wie echt ist das WEF-Flüchtlingscamp?

Was bedeutet es, ein Flüchtling zu sein? Die WEF-Teilnehmer können das während zwei Stunden erleben. Es ist nicht so lächerlich wie es tönt.
Publiziert: 21.01.2016 um 17:43 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 15:10 Uhr
Peter Hossli aus Davos

Es ist dunkel, und es ist höllisch laut. Eine Explosion hallt durch den Raum. Menschen kauern auf dem Boden. Soldaten reissen an ihren Haaren. Einer prahlt, er suche «girl for the general», ein Mädchen für den General. «Werden wir jetzt vergewaltigt?», wimmert eine Frau. «Shut up», halt die Schnauze, ruft der Soldat und zerrt sie weg. Sie kommt nie mehr zurück.

Ein Flüchtlingslager in Afrika, im Libanon? Mitnichten – der Keller eines Luxushotels in Davos. Am Weltwirtschaftsforum (WEF) können Manager und Politiker das schicke Kongresszentrum für zwei Stunden verlassen und im staubigen Untergeschoss so tun, als seien sie selbst Flüchtlinge. Beim Eingang erhalten sie einen neuen Namen und eine neue Identität. Ich heisse jetzt Rashmud, bin 15 Jahre alt, fliehe aus dem Nahen Osten und leide an Bronchitis.

Frauen und Männer werden getrennt. Wobei vor allem Frauen teilnehmen. Als hätten die Manager für ihre Gattinnen eine Beschäftigung gefunden, während sie sich ums Geschäft kümmern.

Plötzlich ist das Licht weg, Schüsse peitschen durch die Nacht, Menschen hetzen uns durch Gänge, zwängen uns in enge Zelte, schreien, strecken allen ihre Gewehre ins Gesicht. Bei einem Grenzübergang nehmen sie den Flüchtlingen die Pässe und das Geld ab. Um etwas essen zu können, gibt einer seine Uhr her, eine blonde Britin ihr Handy und die Ohrringe, ich die Kreditkarten. Mehr als Brot und dreckiges Wasser gibt es dafür nicht.

Es sind ehemalige Flüchtlinge, die in Davos Soldaten und Vorsteher von Flüchtlingslagern spielen – und den Leuten Angst einjagen. Denn Angst ist das, was Flüchtlinge spüren. «Du bist nichts, du bist Dreck, es ist mir egal, ob du stirbst», schreit mich einer an und wirft mich zu Boden – obwohl ich Anzug und Krawatte trage.

Einer der Schauspieler ist der Sohn des Attentäters auf das World Trade Center im Jahr 1993. Eine Frau spielt mit, die in Lesbos Flüchtlinge betreut, ein ehemaliger Kindersoldat aus Uganda ist dabei. So entsteht eine faszinierende Mischung aus Spiel und Realität.

Natürlich hat die Simulation nichts mit dem Leben der Flucht zu tun, ist das Leben auf der Flüchtlingsroute viel härter, wimmern dort Kindern, ertrinken dort Menschen. 

Aber es fährt ein, ein Flüchtling zu sein. Auch dem Autor, der schon auf der Flüchtlingsroute mitreiste, in Kurdistan Flüchtlingslager besuchte, in Slowenien sah, wie Flüchtlinge den Winter erleben.

Die Schauspieler flössen einem für eine kurze Zeit die Angst ein, die Flüchtlinge nonstop spüren. Mit der Realität eines Flüchtlings hat das aber wenig zu tun. Man weiss ständig – es ist bald wieder vorbei. Letztlich ist es ein Schauspiel das aufrüttelt – und das macht es.

Nie wirkt es in Davos peinlich, stets seriös und respektvoll. Einige Teilnehmer weinen, verlassen den Ort schockiert, verängstigt. Das konstante Chaos fährt ein. «Die Teilnehmer sollen zumindest spüren, was es heisst, ein Flüchtling zu sein», sagt David Begbie von der «Organisation Crossroads Foundation» aus Hong Kong.

Er betreibt das fiktive Flüchtlingslager seit mehreren Jahren. «Sechzig Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht, was sie erleben ist viel schlimmer als das, was die WEF-Teilnehmer spüren.» Seine Absicht: «Wir wollen Politiker und Manager aufrütteln, dass sie etwas tun, dass sich die Situation für die Flüchtlinge verändert – und die Kriege stoppen.»

Immerhin: Manager und Politiker kommen vorbei. Gestern war die Frau des türkischen Premierministers da. Nestlé-Präsident Peter Brabeck-Letmathe nahm schon mal teil, oder Virgin-Gründer Sir Richard Branson und Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon.

Bevor Begbie die fiktiven Flüchtlinge wieder in die Freiheit entlässt, gibt er ihnen eine Karte. Darauf notieren sie drei Dinge, die sie unternehmen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Diese Karte schickt er allen per Post nach Hause – als Erinnerung. Dann öffnet Begbie die Türe und Manager-Gattinnen atmen wieder die Freiheit und können wieder raus an die frische Luft.

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