Walter Streich (60) gibt auf. Er sieht keinen anderen Ausweg, seinen Hof in Hausen am Albis ZH zu retten, als nächsten Monat alle 20 Kühe zu verkaufen. Im Weiler Vollenweid besitzt er den letzten Betrieb, in dem noch gemolken wird.
«Vor 30 Jahren hatten wir sieben Betriebe und ich konnte meine Milch in die nahe Sammelstelle bringen», sagt er. Heute holt ein Tankwagen seine Milch ab. Streich muss dafür zwölf Franken Transportkosten zahlen. «Dann bringen sie die Milch nach Freiburg oder ins Tessin. Das ist doch krank.»
Streich ist einer von Hunderten Milchbauern, die dieses Jahr den Bettel hinschmeissen. Im Schnitt sind es jährlich drei Prozent, die aufgeben.
Vor sechs Jahren setzten Parlament und Bundesrat die Liberalisierung des Milchmarktes durch. Seither darf jeder so viel melken, wie er will. Schon bald war mehr Milch da, als gebraucht wird. In solchen Fällen ist der Markt gnadenlos: Ist das Angebot höher als die Nachfrage, fällt der Preis. Früher lösten Beamte das Problem, indem sie die Milchmenge regulierten. Heute sind die Bauern auf sich gestellt.
Die Sache mit der Währung macht alles noch schlimmer: «Wegen des starken Frankens sind wir heute weniger wettbewerbsfähig und exportieren weniger Käse», weiss Martin Pidoux, Agrarmarkt-Dozent an der Berner Fachhochschule HAFL.
Heute erzielen Bauern zwischen 55 und 60 Rappen für einen Liter konventionelle Milch. Erst ab 70 Rappen könnten sie sich einen kleinen Lohn auszahlen. Um zu überleben, sind die Landwirte auf Direktzahlungen vom Bund angewiesen. Doch die gibts heute nicht mehr für Milchkühe, sondern für Landschaftspflege und die Einhaltung von Label-Richtlinien. «Ich kann doch nicht die Milchproduktion mit Direktzahlungen quersubventionieren», klagt Streich.
Doch genau das machen heute die meisten Milchbauern – und halten sich mit Nebenjobs über Wasser.
Streichs Frau arbeitet im Spital. Auch der jüngste Sohn (21) ist auswärts tätig. Er will keinen unrentablen Milchbetrieb übernehmen. «Er kann sich nicht vorstellen, täglich zu krampfen, ohne Wertschätzung und anständige Bezahlung», sagt Streich. «Ich nehme ihm das nicht übel.»
Auch die anderen zwei Kinder wollen nichts vom Hof wissen. Streich arbeitet heute tagsüber alleine, sitzt einsam am Mittagstisch und denkt an die Zeiten zurück, als noch drei Generationen gleichzeitig mithalfen. «Es stimmt doch etwas nicht mehr im System, wenn kein Mensch mehr Lust hat, Bauer zu sein!»
Die gleiche Entwicklung machen Milchbetriebe auch in anderen europäischen Ländern durch. Die kleinen Höfe geben auf, die grossen werden immer grösser. Seit dem 1. April gilt in der EU bei der Milch der freie Markt – nach Schweizer Vorbild. Der Milchpreis ist abgesackt. «Die Situation für einige Bauern ist dort noch dramatischer als bei uns», sagt Agrar-Dozent Pidoux.
Doch die EU-Landwirte nehmen ihr Schicksal nicht kampflos hin. In Frankreich zünden sie Misthaufen vor den Läden an, blockieren Autobahnen, kapern ausländische Milchtransporter und schütten die Milch auf die Strasse. In England jagen sie Kühe durch den Supermarkt oder filmen sich dabei, wie sie sich mit Hunderten von Litern Milch übergiessen lassen. 600 belgische Bauern blockierten diese Woche mit Traktoren den Regionalflughafen Lüttich. Die Polizei musste Tränengas einsetzen.
Für den 7. September ist nun in Brüssel eine Grossdemo angekündigt. Auch Schweizer Landwirte gehen hin. Die Bauernorganisation Big-M will die europäischen Kollegen unterstützen und auf die eigene desolate Lage hinweisen.
Für Bauer Streich ist das keine Option. Er konzentriert sich jetzt auf die Zukunft seines Hofs – und setzt auf Pferde statt Kühe. Schon heute können Pferdehalter ihre Tiere für 650 Franken pro Monat bei ihm in Pension geben. Streich versorgt sie mit Stroh und Futter. Zum Angebot gehört eine Reithalle, die er vor kurzem bauen liess. «Die Halle rettet mich», sagt der Landwirt. «So hab ich eine sinnvolle Aufgabe, bis ich uralt bin.»