BLICK: Herr Gerber, was zeichnet einen guten Chirurgen aus?
Christian Gerber: Man muss die richtige Operation beim richtigen Patienten zum richtigen Zeitpunkt korrekt durchführen. Auch muss man den Mut haben, auf die Operation zu verzichten, wenn es eine bessere Alternative gibt. Zuallererst ist der Chirurg nämlich Arzt und hat somit die Pflicht, dem Patienten die nach etabliertem Wissen beste Behandlung zukommen zu lassen. Dabei ist die Operation nur eine Möglichkeit.
Wie viele Menschen haben Sie operiert?
Rund 10'000.
Was war Ihre schwierigste Operation?
Es gab nicht die eine, schwierigste Operation. Ich hatte unzählige schwierige Situationen, sei es nach schweren Verletzungen oder Erkrankungen.
Was war Ihre schwierigste Entscheidung?
Als ich neu als Chefarzt ans Kantonsspital Freiburg kam, war dort ein junger Mann, der sich schwer verletzt hatte. Es war bereits geplant, ihm beide Beine zu amputieren. Ich entschied mich dagegen und operierte ihn stattdessen mehrfach. Zehn Monate später verliess er das Spital – auf seinen eigenen Beinen. Für solche Momente habe ich Medizin studiert.
Seine Familie hat sich sicher bedankt bei Ihnen. Gab es auch Beschwerden?
Sicher. Nur wer nichts tut, hat keine Komplikationen. Das ist belastend. Die Patienten erwarten, dass ihnen geholfen wird und es ihnen besser geht. Aber das gelingt nicht immer. Das geht bis zu Haftpflichtansprüchen. Damit ist jeder Chirurg konfrontiert.
Chirurgen gelten als Götter in Weiss. Sehen Sie sich so?
Ich hatte diese Versuchung nie. Ich kam als Patient zu meinem Fach. Wenn man an sich selber erlebt, was schiefgehen kann, wird man demütig. Die Patienten sind Menschen, die mir erlauben, in sie hineinzuschneiden. Das ist ein enormer Vertrauensbeweis. So etwas kann man nicht missbrauchen.
Sie wollten eigentlich Fussballer werden.
Ja, das war mein Traum. Ich war Kapitän der Fussball–Juniorennationalmannschaft und wollte unbedingt Profi werden. Dann hatte ich einen Unfall. Das Schicksal hat anders entschieden.
Wie alt waren Sie?
16 Jahre. Bei einem Sprung in den Neuenburgersee landete ich auf einer Untiefe und zog mir eine schwere Halswirbelverletzung zu. Meine Fussballerkarriere war beendet.
Könnte heute Ihre Fussballkarriere gerettet werden?
Ich denke ja. Die Methoden zur Versorgung dieser Verletzung sind viel besser geworden. Die Operation, die bei mir zuerst keiner der konsultierten Chirurgen überhaupt machen wollte, ist heute Standard. Es war aber damals anders, und es ist gut so. Professor Maurice Müller, der mich am Schluss operiert hat, sagte mir: «Die Orthopädie hat dir ein zweites Leben gegeben. Du musst Orthopädie studieren.» So wurde ich Arzt.
Nun treten Sie ab. Ihr Nachfolger Mazda Farshad als Balgrist-Chefarzt ist gerade mal 34 Jahre alt. Was zeichnet ihn aus?
Er ist eine Ausnahmeerscheinung.
Wie Sie eine waren?
Nein, ich denke, er ist besser und hat mehr Potenzial. Er hatte mit 18 die Matur, mit 24 das Medizinstudium, mit 30 die Habilitation. Parallel holte er sich einen Master-Abschluss in Public Health.
Hat er die nötige Autorität?
Fachlich ja, als Chef wird er sie sich erarbeiten wie jeder andere auch. Es geht aber noch um etwas anderes: Ganz junge Leute haben das grösste Potenzial, die Medizin weiterzuentwickeln. Das Fach Orthopädie steht vor technologischen Revolutionen, etwa mit der erweiterten Realität oder der Robotik. Das ist jenseits der Vorstellungswelt meiner Generation. Meine Kinder können innerhalb von zehn Sekunden eine Kamera bedienen, ich muss einen Tag lang die Gebrauchsanleitung studieren.
Übernehmen die Computer?
Sie werden ein unschätzbares Hilfsmittel sein, aber sie werden nicht die Patienten behandeln.
Werden künftig Roboter operieren?
Ich glaube eher nicht. Wenn man meine Generation fragt, wie man in der Zukunft am besten eine Schraube in einen Knochen drehen wird, dann sagt sie, dazu brauche es einen Roboter. Die Generation zwischen 30 und 40 denkt anders. Was soll so ein blöder Roboter? Was man braucht, ist eine Google-Brille, die das Röntgenbild mit dem Patienten abgleicht und eine virtuelle Linie einblendet, entlang der die Schraube eingedreht wird. Meine Generation glaubt noch an Roboter. Für die neue Generation sind sie schon vorbei, bevor sie hier sind.
Gewisse Stimmen behaupten, hochkarätige Ärzte hätten sich nicht beworben um Ihre Nachfolge – aus Angst, dass Sie ihnen dreinreden würden.
Zürich hat eine Besonderheit. Überall sonst sind die Traumatologie des Bewegungsapparates, also Verletzungen des Bewegungsapparates, und die klassische Orthopädie vereint. In Zürich ist die Unfallchirurgie am Universitätsspital, die Orthopädie aber am Balgrist. Da dieses System nicht dem internationalen Standard angeglichen wurde, haben sich sicher einzelne potenziell geeignete Kandidaten nicht beworben, weil sie nicht nur die Hälfte ihres Fachgebietes abdecken wollen. Das ist verständlich.
Und Ihr Einfluss?
Ich werde noch im Stiftungsrat der Balgrist-Stiftung sein, die mit der Klinik nichts zu tun hat. In Klinik und Spital werde ich keine Führungsfunktion haben. Die Situation ist klar: Solange ich hier verantwortlich bin, schaue ich für dieses Unternehmen. Es kann sicher nicht jeder machen, was er will. Aber sobald ich weg bin, übernimmt jemand anders – und zwar definitiv und endgültig.
Was sind Ihre Führungsprinzipien?
Sie haben auf einem Blatt Platz. (Er zeichnet eine Pyramide) Zuoberst ist der Patient, dann kommt das Fachgebiet, dann die Institution und zuunterst das Ego. Jede Frage wird zuerst an die oberste Ebene gerichtet. Was ist richtig für den Patienten? Das ist die entscheidende Frage. Kann man diese nicht richtig beantworten, muss man kurzfristig die Frage auf der nächsten Ebene beantworten – was ist also richtig für das Fachgebiet? Langfristig jedoch muss die Frage durch wissenschaftliche Forschung beantwortet werden, damit in Zukunft die Frage wieder auf der ersten Stufe beantwortet werden kann. Das ist meine ganze Führungsphilosophie. Bei ihrer Einhaltung bin ich fanatisch diszipliniert.
Disziplin haben Sie auch von Ihren Ärzten verlangt. Morgens um sieben Uhr war Antrittsverlesen.
Disziplin hat nichts zu tun mit blindem Gehorsam. Disziplin heisst, dass man die Interessen der Patienten vertritt und aufsteht, wenn etwas oder jemand gegen die Interessen der Patienten verstösst. Unser Morgenrapport ist kein Antrittsverlesen: Wir besprechen, was gestern passiert ist, was gut war, was nicht und vor allem was besser gemacht werden könnte. Die so gewonnene Transparenz verhindert, dass etwas versteckt werden kann und garantiert, dass alle ihr Wissen einbringen, um ein schwieriges Problem zu lösen.
Sie arbeiten 70 bis 80 Stunden pro Woche. Was ist der Preis dafür?
Ich glaube nicht, dass meine Familie darunter gelitten hat. Ich habe die beste Familie der Welt. Meine Gesundheit war manchmal ein wenig angeschlagen. Früher habe ich sogar noch mehr gearbeitet. In meinem ersten Arbeitsvertrag stand: Ihre Arbeitszeit richtet sich nach den Bedürfnissen der Anstalt. Das war damals so.
Der Druck auf den Chirurgen muss riesig sein, wenn er das Gelenk eines Spitzensportlers operiert. Der kleinste Fehler kann diesen die Karriere kosten.
Wissen Sie ... (zögert) nein! Der Druck ist nicht grösser, alle Patienten dürfen zu Recht erwarten, dass wir unser Bestes geben. Ein funktionsuntüchtiger Arm kann auch einen Maurer oder Zimmermann die Karriere kosten.
Spitzensportler werden nicht anders behandelt?
Sie werden oft anders und hoch spezialisiert nachbehandelt und bis auf ein viel höheres Niveau auftrainiert. Im Inneren Ihres Knies sieht es jedoch gleich aus wie in jenem von Roger Federer. Deshalb werden Sportler bei uns oft nicht anders operiert als andere. Andernorts mögen spezielle Operationen für Sportler durchgeführt werden. Aber nicht immer ist das ein Vorteil. Bei Sportlern ist die Gefahr gross, dass sie in eine nicht zwingend nötige Operation gedrängt werden. Im Tennissport beispielsweise brauchen gewisse Verletzungen Pausen von drei bis sechs Monaten, damit sie richtig ausheilen. Viele haben die Geduld nicht und verlangen eine Operation. Falls die Resultate nicht den Erwartungen entsprechen, schreibt die Presse dann, jemand könne nicht mehr Tennis spielen, obwohl er operiert wurde und erwägen nicht, dass es möglicherweise genau deshalb nicht mehr geht, weil er operiert wurde.
Nicht nur Spitzensportler, auch Normalbürger werden zu häufig operiert. Ist das der Grund, dass die Gesundheitskosten ständig steigen?
Sicher gibt es Fälle, in denen missbräuchlich zu viel operiert wird. Aber diese sind selten. Die Frage, ob alle Operationen sinnvoll sind und dem Patienten einen wirklichen Gewinn bringen, ist manchmal schwierig zu beantworten. Das hat stark mit der Anspruchshaltung der Patienten zu tun. Wenn ich einem Patienten auf dem Land sage, er müsse mit seinen Schmerzen noch ein Jahr lang leben, bis es besser wird, bedankt er sich und geht nach Hause. In einer Grossstadt geht er ein Haus weiter – und wird dort in Kürze operiert.
Welchen Anteil hat die Politik an den steigenden Kosten?
Die Politik verteuert die Medizin wissentlich. Nehmen Sie das neue Arbeitszeitgesetz: Eine Universitätsklinik hatte vor Einführung dieses Gesetzes sieben Oberärzte. Wegen des neuen Arbeitsgesetzes braucht es plötzlich 13,2 Stellen für die exakt gleichen Aufgaben. Am Balgrist mussten wir unsere Ärztezahl um mindestens 25 Prozent erhöhen, ohne dass die Anzahl der behandelten Patienten zunahm. Früher arbeitete man 60 bis 80 Stunden. Heute liegt das Maximum bei 50 oder 55 Stunden, wobei Präsenzzeiten grosszügig eingerechnet werden. Dies ist wohl der grösste Teuerungsschub in den Spitälern. Man hat den Eindruck, dass diejenigen, die dieses Gesetz verabschiedet haben, nicht wussten, was sie taten.
Die Politik will nicht das System verteuern, sondern die Arbeitnehmer vor Überarbeitung schützen.
Es ist richtig, dass man die Arbeitnehmer schützt. Was man mit uns früher gemacht hat, war letztlich Ausbeutung. Man soll nicht einfach unbegrenzt über die Leute verfügen können. Aber heute wird den Leuten verboten, länger zu arbeiten, als sie wollen. Ich muss persönlich garantieren, dass die Leute nicht länger arbeiten, sonst werde ich eingeklagt.
Was sind die Folgen?
Die Medizin befindet sich in einem international umkämpften Umfeld. In den USA wird diskutiert, die Arbeitszeit auf 80 Stunden pro Woche zu limitieren. Wir sind bei 50! Mit solchen Regeln wird die Schweiz langfristig abgehängt. Hart arbeiten darf doch nicht illegal sein. Ich hatte das Privileg viele echte Grössen zu treffen aus Sport, Wirtschaft, Kunst, Showbusiness. Das Einzige, was sie gemeinsam haben: Alle sind Schwerstarbeiter. Ich habe noch keinen gesehen, der nur von seinem Talent leben konnte.
Welche weiteren Gründe gibt es für die Kostenexplosion?
Die Anreize stimmen nicht. Wir haben wahrscheinlich eine Milliarde für die Einführung des neuen, ambulanten Abrechnungssystems Tarmed ausgegeben. Nichts ist dadurch billiger geworden. Die wichtigste Folge ist, dass die Ärzte jetzt alle erbrachten Leistungen verrechnen können. Das führt dazu, dass Dinge gemacht werden, die gar nicht nötig wären, aber Geld bringen. Für eine gute klinische Abklärung bekomme ich viel weniger, als wenn ich eine Untersuchung mit einem Apparat vornehme. Technische Leistungen sind in einzelnen Fachgebieten überzahlt.
Wenn Sie Gesundheitsminister wären, wo würden Sie ansetzen?
Ich möchte nicht Gesundheitsminister sein, da diese Position sich nicht um einzelne Menschen kümmert, sondern um abstraktere, grosse Populationen. Wenn ich es trotzdem wäre, würde ich wahrscheinlich die Kontrollmechanismen ändern und die Patienten zur Kontrollinstanz machen. Wenn eine Behandlungsmethode eine Lebensqualitätsverbesserung bringt, sollte die erzielte Differenz entschädigt werden. Die Bürokratie müsste in der Behandlung massiv heruntergefahren. Unwirksame Methoden dürften nicht mehr finanziert werden, dazu gehören auch gewisse alternative Methoden. Leute, die sich trotzdem solche Behandlungen leisten wollen, sollen dafür bezahlen. Wir wollen und müssen dabei jedoch sicherstellen, dass auch nicht vermögende Patienten Zugang zu erstklassigen medizinischen Leistungen haben. Wir wollen keine Situation wie in den USA, wo Arme nicht anständig versorgt werden.
Wie könnte die Politik den Prämienanstieg sonst noch bremsen?
Die Gesundheitspolitik kümmert sich leider oft nicht um die Gesundheit, sondern um die Krankheit. Dort müssten die Prioritäten ändern. Die wirksamste Methode zur Kostenreduktion ist es, die Gesundheit zu erhalten. Geht man nur von Kosten und Leid aus, müsste man Rauchen komplett verbieten, Massnahmen gegen Übergewicht ergreifen, wirksame Impfungen sowie das Tragen von Velo- und Skihelmen für obligatorisch erklären.
Würden Sie das wirklich tun?
Damit ist halt immer auch ein Eingriff in die persönlich Freiheit verbunden – dies gilt es ebenfalls abzuwägen. Aber schauen Sie nur, wie viel weniger Leute auf der Strasse sterben, seit es die Gurtenpflicht und die Promillegrenze 0,5 gibt. Die Politik kann extrem viel erreichen, wenn sie das Richtige tut.