Zwei gelbe Krawatten hängen schlaff am Bügel hinter der Tür. An der Wand ein eingerahmtes buntes Etwas. Kunst? Auf dem Schreibtisch drei 1,5-Liter Flaschen Mineralwasser. Alle halb leer. Hier denkt und arbeitet keiner, der für gedankliche Hochleistungen ein gediegen-häusliches Ambiente benötigt. Dieser Mann ist Aymo Brunetti (52), Professor am Departement of Economics, wie das selbst im beschaulichen Bern neuerdings heisst, an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften also. Ein Mensch, den ausserhalb akademischer Zirkel und der Bundesverwaltung kaum jemand kennt. Ein Mann aber auch, den die Grossbankenchefs im Land in den vergangenen vier Jahren notgedrungen kennengelernt haben. Seit 2010 fungiert Brunetti als Mitglied und Vorsitzender von Expertengruppen des Bundesrats, die ökonomische Expertisen für einen Finanzplatz nach der grossen Krise und die Regulierung der grossen Banken liefern sollen – jene nämlich, die unter die Kategorie systemrelevant fallen, weil sie im Krisenfall möglicherweise eine ganze Volkswirtschaft in den Abgrund reissen können. Und was im Brunetti-Kreis ausgeheckt wird, hat bislang noch jedes Mal via Bundesrat Eingang in Gesetze und Verordnungen gefunden, welche für die Grossbanken bindend geworden sind. Letztmals vor rund einer Woche, als der Bundesrat in einer historischen Sitzung beschlossen hat, global tätige Banken wie UBS und Credit Suisse müssten bis spätestens 2019 fünf Prozent ihrer Bilanzsumme als Eigenkapital und weitere fünf Prozent als im Krisenfall einsetzbares Wandlungskapital bereithalten – so viel, wie nirgendwo sonst auf der Welt; «ein Fanal für die Banken», meinte der BLICK.
Die Regulierer
Kein Banker von Rang äussert sich seit dem Entscheid des Bundesrats öffentlich zu dem, was das, was im Kreis rund um Brunetti vorgespurt worden ist, für die Schweizer Grossbanken bedeutet. Das hat seine Gründe: jeder weiss, am Anfang der Regulierungswelle stand das unglaubliche Fehlverhalten von Banken, welches die globale Finanz- und Schuldenkrise ausgelöst hat. Und in den Teppich-etagen der Geldhäuser ist auch bekannt, dass mit UBS-Präsident Axel Weber und CS-Pendant Urs Rohner die beiden obersten Exponenten in der Gruppe rund um Brunetti gesessen sind, welche die nun vom Bundesrat abgesegneten, härteren Eigenkapitalvorschriften definiert hat. Klar ist freilich auch: die Bankpräsidenten sassen dabei einer Mehrheit von Regulatoren und Behördenvertretern gegenüber. Brunetti als vom Bundesrat eingesetzter Vorsitzender. Mark Branson, Direktor der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma), vom Banker zum Regulator mutierter Ex-UBS-Mann, der wohl immer unter dem Druck steht, seine Ex-Kollegen regulatorisch ja nicht zu weich anzupacken. Und schliesslich Jean-Pierre Danthine, damals für die Finanzmarktstrategie zuständiger Vize der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die sich seit der Finanzkrise immer stärker regulatorisch betätigt. Und selbst die Bankpräsidenten stehen eher in der strategischen, denn operativen Verantwortung.
Dort steht das Topmanagement rund um Sergio Ermotti bei der UBS und Tidjane Thiam bei der Credit Suisse, und allen ist klar, dass es hinter die nun kommunizierten Eigenkapitalvorschriften kein Zurück mehr geben kann. Aber hier, an der operativen Front, kristallisieren sich eben auch die betriebs- und volkswirtschaftlichen Folgen dieser nun weltweit einmaligen Eigenkapitalvorschriften.
Das hört sich in etwa so an: Für die Bank bedeuten diese höhere Kosten, was direkte Auswirkungen auf Mitarbeiter, Kunden, Aktionäre und die Volkswirtschaft sowie den Finanzplatz Schweiz haben wird. Mitarbeiter: Höhere Kosten bedeutet, dass der Druck zunehmen wird, wertschöpfungsärmere Arbeit ins billigere Ausland zu verlagern. Das wird Jobs kosten, und dies heisst für den Standort Schweiz weniger Steuereinnahmen auf Stufe Bankangestellte. Privat- und Firmenkunden werden für Kredite und Hypotheken mehr Zins bezahlen und mehr Eigenkapital bringen müssen.
Wir Musterschüler
Für die Bank führen höhere Kosten zu tieferen Gewinnen und weniger Dividenden, und damit sinkt auch die Attraktivität für Investoren, in eine Schweizer Grossbank zu investieren. Bund und Kantone werden dadurch weniger bis gar keine Steuern aus den Schatullen der Grossbanken erhalten. Ausserhalb der «Too Big to Fail»-Diskussion kann die generell zunehmende Regulierungsdichte zudem dazu führen, dass kleinere Institute wegen der daraus resultierenden Kosten in Bedrängnis geraten. Die Folge von all dem wäre, dass der Finanzplatz wohl insgesamt kleiner und mediokrer wird. So in etwa lautet das Urteil aus dem Cockpit der Banken über die Folgen der weltweit härtesten Eigenkapitalvorschriften. Finma und Nationalbank hätten damit bestätigt, was ihre Absicht sei: Sie wollten die globalen Taktgeber in der Regulierung von Grossbanken sein, dem andere folgen müssten – die Regulatoren hätten ein «Musterschülersyndrom». Der Lehrer der Musterschüler heisst Aymo Brunetti. Was sagt er zu den Klagen aus den Grossbanken zu den Folgen seines Tuns? Er antwortet mit einer Gegenfrage: Was ist «Too Big to Fail», jener technische Oberbegriff, der besagt, dass eine Grossbank nicht pleitegehen darf, weil sie damit – zumindest theoretisch – eine ganze Volkswirtschaft in den Abgrund reissen könnte? Dafür braucht es Regulierungen – gerade in der Schweiz, schliesslich verfügen die beiden Grossbanken gemeinsam über eine Bilanzsumme, die dem dreifachen des Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht. Bankenpleite kann im Land der Banken Staatsbankrott der Schweiz bedeuten.
Notfallpläne
Brunetti hebt zur Erklärung an, redet in beruhigendem Baseldytsch. Die Worte wählt er mit Bedacht, als müsste er ein ungezogenes Kind zur Vernunft bringen. Arme und Hände gestikulieren unablässig und zwingen jedes Gegenüber, jeden Banker dazu, seine Aufmerksamkeit ja nicht auf Schlafmodus zu schalten. «Also nochmals: Was ist: «Too Big to Fail»? Nach der Frage purzeln die Argumente. «Eine Subvention durch den Staat ist das!» Wer darob es wagt, die Stirn in Furchen zu legen, erhält eine nächste Wortsalve um die Ohren geknallt. «Grossbanken können sich zu billig refinanzieren, weil jeder Fremdkapitalgeber weiss: Bei einer Pleite zahlen Staat und Steuerzahler. Bleiben die Furchen, folgt der nächste Satz aus Brunettis Mund: «Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung, die Staatsgarantie gäbe es nicht mehr, problematisch. Und zwar so lange, bis die Banken über funktionierende Notfallpläne und genügend in Eigenkapital wandelbares Fremdkapital verfügen. Erst dann wäre im Krisenfall ein Rückzug ohne staatliche Hilfe aus eigener Kraft möglich.» Für Brunetti, den liberalen Ökonomen, bedeutet die Beseitigung dieser impliziten Staatsgarantie ein ordnungspolitisches Postulat – selbst wenn die für die Beurteilung der Banken-Bonität zuständigen internationalen Ratingagenturen bereits heute die Staatsgarantie meist nicht mehr berücksichtigen. Dort herrscht Konsens, dass es diese nicht mehr gibt.
Umweltverschmutzung
Da Wissenschaftler Brunetti das anders sieht, hat der Bankenplatz auch die Folgen zu tragen. Die Wettbewerbssituation wird durch das neue Regulationsregime für Schweizer Banken verschlechtert? «Das ist gewollt», sagt der Ökonom. Kredite werden teurer? «Das ist richtig! Alles andere wäre eine Subvention des Steuerzahlers an den Kreditnehmer.» Und somit wird Grundsätzliches aus Brunettis Denken deutlich: Wo ein Versagen des Marktes vorliegt, muss der Staat einschreiten, etwa mit Regulierungen. Umgekehrt gilt freilich auch: Kein Marktversagen, kein Staatseingriff. «Die ‹Too Big to Fail›-Problematik ist wie Umweltverschmutzung», urteilt er, «keiner würde sich um saubere Luft kümmern, gäbe es keine bindenden Gesetze.» Aber: «Wir reden den Banken nicht in das Geschäfsmodell hinein», schiebt er nach, «wir definieren nur die Rahmenbedingungen.» Eine Bank müsse aber auch pleitegehen können und systemrelevante Teile im schlimmsten Fall geordnet liquidieren. Und wenn die Banker sich nun beklagen, Brunettis Wirken habe in der Eigenkapitalfrage zu einem «Swiss Finish» geführt, haben sie recht. Am Freitag publizierten die Amerikaner neue Mindestanforderungen an die Kapitalstruktur von Grossbanken. Sie liegen unter jenen der Schweiz. Aymo Brunetti würde vermutlich nüchtern argumentieren: «Die US- und Schweizer Regeln sind in etwa gleich scharf. Das ist gewollt!»