Die Schweiz ist eine kleine, offene Volkswirtschaft – und ein Erfolgsmodell. Kein anderes Land vergleichbarer Grösse hat so eine weltwirtschaftliche Bedeutung. Produkte «Made in Switzerland» sind rund um den Globus gefragt. Touristen aus allen Ländern zieht es in die Schweiz, um Berge, Seen und Städte zu bestaunen. All das bedingt ein hohes Mass an Offenheit gegenüber dem Ausland. Protektionistische Tendenzen können wir uns nicht leisten, der freie Verkehr von Gütern und Dienstleistungen ist für die Schweiz zentral, bringt uns Wohlstand und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt.
Doch gerade diese Offenheit sieht die liberale Denkfabrik Avenir Suisse akut bedroht, schreibt vom «Reformstau am Gotthard», warnt eindringlich vor Stillstand. Dagegen wollen die Vordenker ankämpfen. Sie präsentieren heute das neue «Weissbuch Schweiz» für die Zukunft unseres Landes, das BLICK vorab schon einmal lesen konnte. Mit der Publikation will die Denkfabrik aufrütteln. Das Weissbuch führt den Leser ins Jahr 2030 – je nach Szenario geht es der Schweiz besser oder schlechter. Der Status quo ist keine Option. BLICK zeigt die wirtschaftlichen Folgen und die politischen Chancen der Szenarien auf.
Szenario 1: Selbstbestimmter Rückzug
Die Schweiz wagt den Alleingang und kündigt das Abkommen über die Personenfreizügigkeit, die bilateralen Verträge mit der EU werden hinfällig. Switzerland first ist das Schlagwort der Stunde, der Schutz von Landschaft und Ortsbildern ist zentral, die einheimische Landwirtschaft gewinnt an Bedeutung, spielt eine wichtige Rolle bei der Einhaltung der strengen Umweltschutzregeln. Der Staat stärkt das lokale Gewerbe, auf dem Arbeitsmarkt herrscht strikter Inländervorrang. Der Handel mit dem Ausland verläuft nach den Regeln des Freihandelsabkommens von 1972. Die Hürden für den Warenaustausch sind hoch, die Personenkontrollen an den Grenzen streng.
Wirtschaftliche Folgen:
Die Schweiz entwickelt sich zu einem idyllischen Flecken im Herzen Europas. Hier ticken die Uhren langsamer als im Rest der Welt. Der Preis dafür allerdings ist hoch: Das Wirtschaftswachstum sinkt stark, die Preise steigen und die Löhne sinken. Einkommensunterschiede verschwinden, aber die Arbeitslosigkeit steigt. Die Abkoppelung von der Globalisierung führt zu einem – selbstgewählten – Wohlstandsverlust.
Politische Einordnung:
Just dieser drohende Wohlstandsverlust dürfte dafür sorgen, dass dieses Szenario nie Realität wird. Zwar ist eine isolationistische Stimmung auch in der Schweiz spürbar: Die Masseneinwanderungs-Initiative der SVP lässt grüssen. Doch alle anderen Parteien von FDP bis SP werden dagegenhalten.
Szenario 2: Globale Oase
Die Schweiz – ein Land ohne grosse Kontrollen und Regeln. Erlaubt ist fast alles, solange sich niemand anderes daran stört. Die individuelle Freiheit ist gross. Der Staat beschränkt sich auf das Notwendigste, die meisten Staatsbetriebe sind privatisiert, die Landwirtschaft erhält deutlich weniger Geld. Die bilateralen Verträge werden gekündigt, zu viele Regeln befinden die meisten Schweizer. Statt Ausgleich zwischen den Regionen herrscht knallharter Wettbewerb. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Unternehmen frei, Arbeitskräfte auf der ganzen Welt zu rekrutieren. Wo immer möglich regelt der Markt gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen: Wer zu den Stosszeiten unterwegs sein will, bezahlt einen höheren Preis. Die Bevölkerung wächst stark. Das saniert die AHV, in den Städten explodiert der Hochhausbau.
Wirtschaftliche Folgen:
Die Schweiz ohne Regeln boomt, das Wirtschaftswachstum lockt ausländische Arbeitskräfte in Scharen in die Schweiz. Nicht alle profitieren gleich von der Wirtschaft ohne Grenzen, der Unterschied zwischen tiefen und hohen Einkommen steigt stark an. Die Berggebiete gehören zu den Verlierern, ohne Service public müssen sie für gewisse Dienstleistungen viel mehr bezahlen als früher.
Politische Einordnung:
So sehr sich manche diese Schweiz herbeisehnen werden: Auch sie wird nie Realität werden. Zu stark sind Traditionen und Service public in der Bevölkerung verankert. Das weiss die Politik sehr gut. Doch auch wenn die globale Oase ein liberaler Traum bleiben wird – an mehr Hochhäuser und höhere Billettpreise zu Stosszeiten sollten wir uns gewöhnen.
Szenario 3: Club Schweiz
Die Schweiz will selbst bestimmen, wer ins Land darf und wer nicht. Das passt der EU nicht, doch der Druck aus Brüssel erreicht das Gegenteil: Anstatt ein Rahmenabkommen abzuschliessen, kündigt die Schweiz das Abkommen zur Personenfreizügigkeit und nimmt den Verlust der bilateralen Verträge in Kauf, das Land verzichtet auf eine weitere Integration in den europäischen Binnenmarkt. Der «Swixit» führt in langwierigen Verhandlungen zu einem Ausbau des Freihandelsabkommens von 1972. Um die Zuwanderung zu regeln, setzt die Schweiz auf Kontingente, erleichtert aber die Einbürgerung ausländischer Arbeitskräfte: Wer zum Club dazugehören will, soll es durch die Annahme der Staatsbürgerschaft bekunden. Um weiterhin am globalen Freihandel teilnehmen zu können, muss die Schweiz den Grenzschutz für die heimische Landwirtschaft lockern.
Wirtschaftliche Folgen:
Nur mit grosser Mühe gelingt es der Schweiz, das Wachstum der Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Die Schweizer Binnenwirtschaft gewinnt an Bedeutung, der Export von Gütern und Dienstleistungen leidet. Der erschwerte Marktzugang im Ausland zwingt zu grossen Reformen im Inland, um die Verlagerung von Arbeitsplätzen teilweise zu unterbinden.
Politische Einordnung:
Mit einem «Swixit» liebäugelt die SVP. Partei-Doyen Christoph Blocher (77) betont gern, dass das Freihandelsabkommen von 1972 für die Schweiz völlig ausreichend wäre. Ausgebaut könnte es schon die bilateralen Verträge ersetzen. Wie schwierig die Verhandlungen sein würden, lässt sich derzeit an Grossbritannien beobachten.
Szenario 4: Tragfähige Partnerschaft
Der Schweiz gelingt es, das Verhältnis zur EU langfristig zu regeln und eine vertiefte Partnerschaft einzugehen. Dank der Vermittlung der Nachbarstaaten Deutschland und Österreich schliesst die Schweiz mit der EU einen Rahmenvertrag, der die Weiterentwicklung der Partnerschaft regelt. Die Schweiz darf sich bei der Entstehung neuer Rechtsnormen einbringen, akzeptiert die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für sämtlich Fragen des EU-Rechts. Streitfälle kommen vor ein Schiedsgericht. Die Schweiz wahrt ihre Eigenständigkeit und muss weder auf direkte Demokratie noch auf den Franken verzichten. Der Rahmenvertrag führt mittelfristig zu einem umfassenden Dienstleistungsabkommen.
Wirtschaftliche Folgen:
Die vertiefte und vereinfachte Zusammenarbeit mit der EU beschert der Schweiz einen langfristigen Wachstumsschub. Die Hürden für den Austausch von Waren und Dienstleitungen sinken. Vor allem der Finanzsektor profitiert davon, dass Banken und Versicherungen ihre Dienstleitungen nun europaweit anbieten können. Der Wettbewerb im Inland und die Konkurrenz am Arbeitsmarkt steigt.
Politische Einordnung:
Die «tragfähige Partnerschaft» mit einem Rahmenvertrag entspricht dem Wunsch des Bundesrats und der meisten Parteien. Aber: Um dieses Szenario zu realisieren, ist viel Überzeugungsarbeit notwendig. Denn in der Bevölkerung ist der Support für die automatische Übernahme von EU-Recht nicht besonders gross.
Szenario 5: Europäische Normalität
Die Schweiz ist Mitglied der EU, bleibt aber neutral, muss aber auf den Franken verzichten. Jahrzehntelang ist es der Schweiz nicht gelungen, die aussenwirtschaftliche Öffnung weiter voranzutreiben, der Abschluss neuer Freihandelsverträge wird immer schwieriger. Die Schweiz droht zwischen grossen Wirtschaftsblöcken zerrieben zu werden, da nicht nur Europa, sondern auch der asiatisch-pazifische Raum enger zusammenwachsen. Die Schweiz durchlebt einen schleichenden Niedergang, die Kraft für Reformen fehlt. Am Ende bleibt nur der Befreiungsschlag: der Beitritt zur EU. Der Euro bleibt der Schweiz nicht erspart, dafür muss die Schweiz nach einigen Anpassungen nicht ganz auf die direkte Demokratie verzichten.
Wirtschaftliche Folgen:
Mit dem Vollbeitritt zum Binnenmarkt verschärft sich der Wettbewerb in der Schweiz. Die Preise sinken, allerdings steigt die Mehrwertsteuer auf europäisches Niveau. Der Staat hat dadurch mehr Geld, kann dieses für die Sicherung der AHV einsetzen. Der Schweizer Detailhandel wird durchgeschüttelt, denn immer mehr europäische Anbieter drängen auf den heimischen Markt.
Politische Einordnung:
Den Schweizer Franken aufgeben und die Volksrechte einschränken? Soweit kommts noch! Ein EU-Beitritt ist heute völlig ausgeschlossen. Allerdings: Sollte die Schweiz eine grosse wirtschaftliche Krise erleben und der Reform-stau – Stichworte Rentenreform und Unternehmenssteuern – anhalten, könnte ein Beitritt das letzte Rettungsboot sein.
Szenario 6: Skandinavischer Weg
Die wohlhabende Schweiz ist eine begehrte Braut, das weiss auch die EU – und deshalb gegenüber der Schweiz grosszügig, als diese der Union beitritt. Den Franken darf die Schweiz behalten. Der stetige Ausbau des Sozialstaates hat das Land zentralisiert, Kompetenzen von den Kantonen nach Bundesbern verlagert. Bern denk und lenkt, der Bürger bezahlt. Dafür bekommt er, wie in Skandinavien, viel vom Staat. Zum Beispiel Kinderbetreuung rund um die Uhr oder eine günstige Genossenschaftswohnung. Viel Geld wird umverteilt, das braucht eine leistungsstarke Wirtschaft. Viele Einschränkungen für die Wirtschaft werden abgeschafft, die Liberalisierung finanziert den Ausbau des Sozialstaates.
Wirtschaftliche Folgen:
Das Sozialsystem ist so teuer, dass es der Schweiz nur mit Mühe gelingt, wirtschaftlich zu wachsen. Die Liberalisierung lässt die Preise sinken, wer einen Job hat profitiert, auch dank der Rundum-Versorgung durch den Staat. Allerdings zieht der ausgebaute Sozialstaat viele Migranten an, die nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Die Arbeitslosigkeit steigt.
Kommentar vom Wirtschaftsredaktor Christian Kolbe
Mit Weissbüchern ist es so eine Sache. 1995 stiess das Weissbuch «Mut zum Aufbruch» viele vor den Kopf, die Schweiz wollte sich von ein paar prominenten Wirtschaftsführern nicht vorschreiben lassen, wie sie sich zu entwickeln habe. Statt Applaus gab es Ablehnung, auch wenn sich viele Rezepte im Nachhinein als richtig erwiesen.
Daraus hat Avenir Suisse die Lehren gezogen. Das neue «Weissbuch Schweiz» aus der Küche der wirtschaftsliberalen Denkfabrik zeichnet nüchtern sechs mögliche Wege der Schweiz ins Jahr 2030 auf. Ohne wirklich zu werten, auch wenn zwischen den Zeilen klar ist: Ein Rahmenabkommen mit der EU ist der von Avenir Suisse und der Wirtschaft bevorzugte Weg für die künftige Zusammenarbeit mit Europa. Das Rezept der Vordenker heute: ein bisschen provozieren, damit der guteidgenössische Kompromiss doch noch auf den Weg kommt. Das ist richtig und wichtig, denn wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen. Sitzenbleiben aber kann sich der Musterschüler Schweiz nicht leisten.
Kommentar vom Wirtschaftsredaktor Christian Kolbe
Mit Weissbüchern ist es so eine Sache. 1995 stiess das Weissbuch «Mut zum Aufbruch» viele vor den Kopf, die Schweiz wollte sich von ein paar prominenten Wirtschaftsführern nicht vorschreiben lassen, wie sie sich zu entwickeln habe. Statt Applaus gab es Ablehnung, auch wenn sich viele Rezepte im Nachhinein als richtig erwiesen.
Daraus hat Avenir Suisse die Lehren gezogen. Das neue «Weissbuch Schweiz» aus der Küche der wirtschaftsliberalen Denkfabrik zeichnet nüchtern sechs mögliche Wege der Schweiz ins Jahr 2030 auf. Ohne wirklich zu werten, auch wenn zwischen den Zeilen klar ist: Ein Rahmenabkommen mit der EU ist der von Avenir Suisse und der Wirtschaft bevorzugte Weg für die künftige Zusammenarbeit mit Europa. Das Rezept der Vordenker heute: ein bisschen provozieren, damit der guteidgenössische Kompromiss doch noch auf den Weg kommt. Das ist richtig und wichtig, denn wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen. Sitzenbleiben aber kann sich der Musterschüler Schweiz nicht leisten.
Politische Einordnung:
Immer wieder schielt die Welt auf Skandinavien. Doch der Wohlfahrtsstaat dort hat seinen Preis: hohe Steuern und Abgaben, gepaart mit Zentralismus. Beides hat in der Schweiz traditionell einen schweren Stand. Für die Schweiz ist Skandinavien kein Modell.