Avenir-Suisse-Chef Peter Grünenfelder über die Schweiz 2030
«Ein EU-Beitritt kann Sinn machen»

Totale Abschottung oder EU-Beitritt ohne Wenn und Aber. In dieser Bandbreite bewegen sich die sechs Szenarien über unsere Zukunft, die Avenir Suisse im «Weissbuch Schweiz» ausgearbeitet hat. Peter Grünenfelder (51), Direktor der wirtschaftsliberalen Denkfabrik, über die Notwendigkeit zu streiten und zu debattieren.
Publiziert: 31.05.2018 um 16:23 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 01:40 Uhr
Christian Kolbe

Gestern hat BLICK sechs Szenarien zur Zukunft der Schweiz vorgestellt, ausgearbeitet von Avenir Suisse. Peter Grünenfelder (51) ist der Direktor der liberalen Denkfabrik. Er nimmt sich heute die Zeit, zu erklären, warum diese Gedankenexperimente notwendig sind. Die Szenarien im «Weissbuch Schweiz» reichen von totaler Abschottung über eine Partnerschaft mit der EU bis hin zum EU-Beitritt. Grünenfelder steht unter Hochspannung, die Gedankenexperimente sind gewagt. 

BLICK: Peter Grünenfelder, im letzten Kapitel des Weissbuchs ruft Avenir Suisse zum Streiten auf. Sind wir Schweizer zu harmoniebedürftig?
Peter Grünenfelder:
Es ist ein Aufruf zu einem konstruktiven Streiten, ein Aufruf endlich eine Diskussion über die Zukunft des Landes zu führen. Wir dürfen nicht zu sehr am Status quo kleben. Es geht darum, die Probleme anzupacken, Tabus und Denkverbote fallen zu lassen.

Was ist so schlecht am Status quo? Uns geht es gut, wir sind eines der reichsten Länder der Welt. 
Gefühlt sind wir tatsächlich eine Insel der Glückseeligen. In den nächsten 15 Jahren werden aber immer weniger Junge immer mehr Rentner finanzieren müssen – darum brauchen wir einen Produktivitätsschub, wenn wir diese Entwicklung ohne Wohlstandsverluste bewältigen wollen. Dazu kommt der Reformstillstand: Es bewegt sich letztlich nichts mehr, wir schaffen es nicht, dringend nötige Reformen wie für die Altersvorsorge oder die Unternehmensbesteuerung aufzugleisen. 

Wir sollen also über die Beziehung zum Ausland, zu Europa, nachdenken, um den Reformstau im Inland aufzulösen. Kann sich die Schweiz nicht aus eigener Kraft reformieren? 
Die Schweiz ist stark genug, aber sie muss beides tun: ihr Verhältnis zur EU klären und den inneren Reformstau überwinden.

Als Wegweiser dienen die sechs Szenarien von Avenir Suisse. In zwei davon tritt die Schweiz der EU bei, die Mehrwertsteuer steigt, die AHV ist saniert. Muss die Schweiz der EU beitreten?
Aussenwirtschaftliche Integration bedeutet eben auch, den Wettbewerbsdruck im Innern zu erhöhen, die Reformbereitschaft steigt. Darum stellen wir auch Szenarien zur Diskussion, die in unserem Land mittlerweile vergiftet sind, aber ökonomisch durchaus eines Tages Sinn machen könnten ...

... damit meinen Sie den EU-Beitritt? 
Ja! Weltweit entstehen neue Machtblöcke, die gegenüber Drittstaaten protektionistischer auftreten. Verstärken sich diese Tendenzen, könnte die Schweiz zwischen Stuhl und Bank fallen. Mit allen wirtschaftlichen Nachteilen. Schwächelt die Wirtschaft und steigt die Arbeitslosigkeit, dann könnte es möglich sein, dass die EU-Mitgliedschaft plötzlich wieder ein Thema ist und die Stimmung im Volk kippen kann. Das ist derzeit nicht der Fall, aber die Welt ums uns herum verändert sich rasant. Auf diese Diskussionen sollten wir uns schon heute gedanklich vorbereiten.

Dazu schreiben Sie ein Weissbuch, das ist doch ein verstaubtes Instrument aus dem letzten Jahrhundert? 
Nein, das ist ein Weissbuch im klassischen Sinne, wie es im Ausland weit verbreitet ist. Man macht eine Auslegeordnung, entwickelt Szenarien und bewertet diese. Das kann, das soll eine breite öffentliche Diskussion auslösen. Verstaubt ist es schon gar nicht, dann wäre es ja grau – es ist aber eben ein Weissbuch!

Peter Grünenfelder, Direktor Avenir Suisse.
Foto: Anja Wurm

Im Parlament geht es auch um Aussenpolitik: Der Nationalrat debattiert die Selbstbestimmungsinitiative der SVP – was halten Sie davon?
Die Schweiz ist als kleines, globalisiertes Land auf internationale Rechtssicherheit angewiesen. Eigenes Recht absolut über internationale Normen zu stellen, wäre darum ein Eigengoal.

Was hat zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention mit der Aussenwirtschaft zu tun?
Das ist auch ein Regelwerk, das Rechtssicherheit schafft. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass sich die Schweiz nicht mehr an internationale Abmachungen hält.

Welches ist Ihr persönliches Lieblingsszenario?
Meine Lieblingsszenarien sind jene, die den Wohlstand in unserem Land langfristig sichern und weiterentwickeln. Für den sozialen Zusammenhalt in unserem Land braucht es Wohlstand für breite Kreise. Die Szenarien, die aufzeigen, wie der Refomstillstand im Land überwunden und wie der Zugang zu ausländischen Märkten gestärkt werden kann, sind mir persönlich lieber als jene, die einen absoluten Rückzug postulieren. Denn das würde zu inneren Spannungen führen, die ich nicht erleben möchte.

Konkret?
Wir lassen uns von der Entwicklung des Wohlstands leiten: Deshalb sind die tragfähige Partnerschaft, also der Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU, oder die europäische Normalität, sprich der EU-Beitritt, ökonomisch vorteilhafter als der Rückzug.

Ist das ein Aufruf, mit dem Rahmenabkommen jetzt endlich vorwärtszumachen?
Es ist vor allem ein Aufruf zur Debatte! Wir sind alle überzeugte Direktdemokraten, diese Diskussion muss nun geführt und darf nicht ausgesessen werden. Es ist ein Aufruf zu einem offenen und fairen Streit, in welche Richtung sich die Schweiz weiterentwickeln soll! Um am Schluss demokratisch darüber zu entscheiden.

Rastlos zum Zündstoff

Peter Grünenfelder steht seit knapp drei Jahren an der Spitze von Avenir Suisse. In dieser Zeit hat der ehemalige Staatsschreiber des Kantons Aargau seine eigene Unrast auf den liberalen Think Tank übertragen. Die Denkfabrik steht der Wirtschaft nahe, prangert zu viel Regulierung und zu wenig Markt an. Immer wieder gelingt es Avenir Suisse, auf Probleme aufmerksam zu machen und liberale Lösungswege vorzuschlagen. Auch das eben veröffentliche «Weissbuch Schweiz» birgt viel politischen Zündstoff.

Peter Grünenfelder steht seit knapp drei Jahren an der Spitze von Avenir Suisse. In dieser Zeit hat der ehemalige Staatsschreiber des Kantons Aargau seine eigene Unrast auf den liberalen Think Tank übertragen. Die Denkfabrik steht der Wirtschaft nahe, prangert zu viel Regulierung und zu wenig Markt an. Immer wieder gelingt es Avenir Suisse, auf Probleme aufmerksam zu machen und liberale Lösungswege vorzuschlagen. Auch das eben veröffentliche «Weissbuch Schweiz» birgt viel politischen Zündstoff.

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