Was sich am Samstag in der Dossenhalle in Kerns zutrug, war letztmals der Fall, als Samuel Schmid noch im Bundesrat sass: Bäuerinnen und Bauern ziehen Lose um Alpen, auf deren Wiesen sie ab 2021 im Sommer für zwölf Jahre ihr Vieh weiden dürfen. Es geht um Bundesbeiträge, Milchgeld und Existenzen.
Es ist 8 Uhr und nassgrau draussen, drinnen an den langen Festbänken stehen 960 Stühle, von denen schon wenig später keiner mehr leer sein wird. Edelweissmuster auf Hemden und Tischtüchern, auf der Bühne neben dem Weibel, der die Verlosung vornimmt, spielen Handorgeln und Bass vor einer Holzbank mit Kreuz, «Bhiät ys Gott dr Buirästand», steht darauf.
Die landwirtschaftlichen Sommersitze, um die es heute geht, gehören der «Alpgenossenschaft Kerns ausserhalb der steinernen Brücke». So heisst die Genossenschaft mit 1800 Genossinnen und Genossen, von denen 120 ein Nutzungsrecht haben und 76 heute «um eine Alp ziehen», wie sie hier die Verlosung nennen.
Zu wenig Alpen, zu viele Bauern
Die Bewerber heissen Ettlin, Windlin oder Röthlin. Auch Durrer, von Rotz oder Bucher. Josef Bucher ist einer, der heute besonders viel zu verlieren hat. In den letzten zwölf Jahren trieb er seine Kühe auf die Alp Bergmatt, 1000 Meter über Meer, vielleicht 17 Hektaren, eigentlich ein eigener Landwirtschaftsbetrieb mit Haus und Stall und Käserei, die Sbrinz produziert.
Die «Königin der Alpen» sei die Bergmatt, wird später einer sagen. Bewirtschaften lässt sie sich zwar nur von Mai bis Oktober. Dafür ist sie flach, hat Gras für 100'000 Liter Milch und ist nicht so arbeitsintensiv und abgelegen, wie etwa die Alp Lachen, die an diesem Morgen als erste verlost wird. Nur ein Bewerber will sie und erhält sie auch.
Die Verlosung in Kerns sucht im Kanton Obwalden ihresgleichen. Die Alpgenossenschaft besitzt über 2600 Hektaren Land oder einen Drittel der Fläche der Gemeinde Kerns. Davon sind 1900 Hektaren Wies- und Alpland. Die Gemeinde habe zu wenig Alpen für zu viele Bauern, begründet Alpvogt Markus Durrer die Tradition. Zudem gebe es grosse Unterschiede bezüglich der Qualität der einzelnen Alpen, die bis auf 2000 Meter über Meer im Gebiet der Melchsee-Frutt liegen.
Bergmatt, die «Königin» der Alpwirtschaften
Als zweite Alp an diesem Morgen ist bereits die Bergmatt an der Reihe. Josef Bucher ist angespannt, möchte die Alp behalten, wo er das vergangene Jahrzehnt seines Lebens verbrachte. Schon sein Vater hatte die «Königin» einmal gezogen, Sohn Samuel lernt gerade Bauer. Zusammen mit Niklaus Ettlin, den sie hier Glais nennen, sitzt Vater Bucher am Tisch und sagt, wenn er heute keine Alp ziehe, müsse er den Viehbestand reduzieren, fast halbieren vielleicht.
Platz im Stall im Tal hat er zwar für 28 Kühe. Aber was zählt, ist das Land fürs Gras und die Gülle. Darum sind die Alphektaren für die Bauern hier so wichtig.
Wer die Bergmatt ergattern will, muss sich jetzt eintragen. Bucher und Ettlin treten als letzte auf die Bühne. 10'780 Franken Alpzins kostet die Bergmatte, fast doppelt so viel wie die zweitgrösste Alp, die heute zu haben ist. Mindestens zwei Bewirtschafter braucht es, zehn Parteien bewerben sich. Zuerst wird die Reihenfolge ausgelost, Bucher und Ettlin ziehen die Nummer 9.
Zehn Kugeln im hölzernen Butterfass
Dass die Alpen so begehrt sind, hat auch mit der Politik des Bundes zu tun. Mit Beiträgen für deren Nutzung wollte er der Verbuschung etwa auf Bündner und Tessiner Alpen Einhalt gebieten. Davon profitieren nun auch die Älpler in Kerns.
Die Bewerber haben sich beim Holzkreuz auf der Bühne versammelt. Edelweisshemden da, Filz-Gilets mit Kuhsignet dort. Sie stehen im Halbkreis um ein hölzernes Butterfass, in das der Weibel nun zehn Kugeln steckte. Eine davon für die Bergmatt.
Wer zum Zmittag den Fleischvogel wolle, solle sich melden, lässt die Festwirtschaft ausrichten. Es ist kurz vor 9 Uhr. Der Weibel dreht das Butterfass, im Innern rumpeln die Kugeln. Eine erste Bewerberin steckt ihren Arm hinein, holt eine Kugel heraus, der Weibel rollt den Zettel darin aus und zuckt mit den Schultern. Kein Glück.
«Es ist brutal»
Als zweiter an der Reihe ist Ruedi von Rotz. Der 43-Jährige hat die letzten zwölf Jahre die Alp Eglibrunnen bewirtschaftet, auch eine stattliche Bodenalp. «Es ist brutal», sagt er nach der Ziehung. Er habe einige schlaflose Nächte gehabt.
Als mittelgrosser Betrieb sei er auf die Alpung angewiesen. Sein Vater ging im Sommer auf die Alp, er arbeitet dann als Gartenbauer im Nebenerwerb. Nun zieht der Vater von drei Kindern um die Bergmatt. Rote Mütze, die Ärmel des karierten Hemds hochgekrempelt, reckt er seinen Arm in die Trommel, reicht die Kugel dem Weibel, der entrollt den Zettel, nickt ihm zu und reicht ihm die Hand und in der Halle ein Jubel um 8.56 Uhr.
Er könne sich nun, sagt der Sieger wenig später bei einem Glas Tessiner Merlot, voll und ganz auf die Landwirtschaft konzentrieren. Josef Bucher und Niklaus Ettlin bleibt eine letzte Saison auf der Bergmatt. Sie ziehen an diesem Samstag noch um andere Alpen. Doch so bequem wie auf der «Königin», sagt Sohn Samuel, werde man es in den nächsten zwölf Jahren nicht mehr haben. (kes/SDA)