Als er Konzernchef bei Shell war, floss Öl durch seine Adern. Als ABB-Präsident fährt Peter Voser (63) auf E-Technologien ab. Um fünf Uhr steigt der Frühaufsteher aus seinem Porsche Taycan – «so was von voll elektrisch» – und stöpselt den Sportwagen an die Ladestation am Firmensitz in Zürich-Oerlikon. Um diese Uhrzeit sei noch niemand im Büro. «Ich kann strategisch denken und in Ruhe arbeiten», so der ABB-Präsident. Es ist noch dunkel, als er Blick empfängt. Voser hat bereits eine Videokonferenz mit Singapur hinter sich. «Der halbe Tag ist bereits gelaufen», scherzt der Aargauer.
Über die Lieferkettenprobleme
Blick: Herr Voser, Ihre Auftragsbücher sind so voll, sodass Sie Aufträge ablehnen mussten. Verlieren Sie gerne Geld?
Peter Voser: Ich bin kein Mensch, der gerne Geld verliert. Die Wirtschaft brummt, unsere Auftragsbücher sind voll wie nie. Unsere Kunden müssen aber länger auf unsere Produkte warten.
Wo klemmt es?
Nicht nur die Halbleiter sind knapp, sondern auch diverse Materialien. Die ABB-Fabriken sind voll mit Produkten und Komponenten, aber viele haben Zettel daran, welche Teile noch fehlen. Den Höhepunkt der Lieferprobleme haben wir jedoch hinter uns. Trotzdem braucht es noch Monate, bis die Lieferketten wieder reibungslos ineinandergreifen. Der Halbleitermangel wird wohl auch im Jahr 2022 andauern.
Nur 9 Prozent der Halbleiter-Fertigung stammen aus Europa, in den 1990er-Jahren waren es noch 40 Prozent. Muss sich das ändern?
Ich bin überzeugt, dass Europa eine Re-Industrialisierung erleben wird. Die Konsumenten wünschen eine nachhaltige, lokale Produktion. Weil sie gleichzeitig nicht teurer sein darf als in Asien, automatisieren die Firmen noch schneller. Die Kosteneinsparungen ermöglichen kleinere und nähere Produktionsstätten.
Also mehr Arbeitsplätze in Europa dank der Pandemie?
Sie hat alles beschleunigt und den Firmen die Risiken noch bewusster vor Augen geführt. Die globalen Lieferketten mit nur einer riesigen Fabrik irgendwo in Asien werden in ein paar Jahren Geschichte sein. Gleichzeitig wird die neue Produktion in Europa sehr stark automatisiert und damit flexibler und viel näher am Kunden erfolgen.
Was heisst das für Ihren Konzern?
Die ABB verfolgt seit Jahrzehnten eine lokale Politik. Mehr als 90 Prozent des Umsatzes, den wir in China erzielen, stammen aus vor Ort hergestellten Produkten. Das gleiche Prinzip gilt für die USA und für Europa. Das spielt uns jetzt bei den Konsumententrends in die Hände.
Über die Spannungen zwischen dem Westen und China
Sie sind weltweit tätig und mit den Staatsspitzen in Russland, Asien und den USA vernetzt. Wie spüren Sie den neuen Kalten Krieg?
Als Schweizer Firma verhalten wir uns neutral. Ein Beispiel: 99 Prozent unserer 15'000 Mitarbeitenden in China stammen aus der dortigen Bevölkerung. Wir sind verpflichtet, auch dort unsere globalen ethischen und menschenrechtlichen ABB-Standards zu implementieren. Aus der chinesischen Politik allerdings halten wir uns raus.
Das eine lässt sich ja kaum vom anderen trennen.
Es geht nicht immer. In gewissen Ländern dürfen wir keine US-Technologie verwenden. In China zum Beispiel setzen wir bei der Cloud-Technologie nicht Microsoft-Software ein, sondern Huawei. Solche Anforderungen könnten zunehmen.
Was, wenn die Schweiz einen gröberen Konflikt mit China hätte?
China wird zwischen ABB und geopolitischen Themen unterscheiden können. Gleichzeitig erwarte ich, dass uns unsere Heimatländer Schweiz und Schweden zur Seite stehen, wenn wir in China Geschäfte anbahnen.
Andere Firmen meiden China, weil dort früher oder später alles kopiert werde.
Das ist kein chinesisches Phänomen. Wir müssen so oder so immer einen Schritt voraus sein und die innovativeren Produkte haben.
Über den Fachkräfte-Mangel
Finden Sie genügend Talente, um weltweit führend zu sein?
Der Fachkräftemangel ist ein massives Problem, nicht nur bei den Spezialisten: In unserem wichtigsten Markt Amerika ist es auch in der Produktion sehr schwierig, Personal zu finden.
Lernen die jungen Leute das Falsche?
Die meisten schliessen ihre Ausbildung noch immer mit 25 Jahren ab. Die Welt funktioniert aber nicht mehr so: Technologie verändert sich so schnell, dass ich gezwungen werde, mich alle 15 Jahre neu auszubilden. Unsere Schulen sind aber nicht dafür gebaut. Hier muss ein Ruck durch Gesellschaft und Politik gehen.
Und durch die Firmen: Kaum jemand stellt einen 55-Jährigen ein.
Auch hier muss ein Umdenken stattfinden. Das Bedürfnis, sich weiterzubilden, ist bei den über 50-Jährigen ebenso stark wie bei den Jüngeren. Wir Firmen sollten das Potenzial der älteren Fachleute besser abholen und Geld in lebenslanges Weiterlernen investieren.
Was braucht es, damit der Standort Schweiz attraktiv ist?
Forschung und Entwicklung. Gute Ausbildungsstätten. Lebensqualität. Und die richtigen Rahmenbedingungen, wobei ich da nicht an tiefe Steuern denke. Viel wichtiger ist die Personenfreizügigkeit, damit wir genügend Fachkräfte in die Schweiz bringen.
Das Vertrauen in die Wirtschaft hat massiv gelitten, wie etwa das Beinahe-Ja zur Konzernverantwortungs-Initiative zeigt. Was ist los?
Seit der Finanzkrise 2008 funktioniert das Zusammenspiel weniger gut. Politik und Gesellschaft polarisieren, gleichzeitig verstecken sich die Unternehmen. Mein Appell: Statt überall Schuldige zu suchen, sollten Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sich zusammenraffen und gemeinsam die Zukunft bauen.
Über die erstaunlichen Erfolge des neuen ABB-CEO
Seit Björn Rosengren (62) 2020 als CEO am Drücker ist, macht ABB in allen Bereichen wieder vorwärts …
… Ja, ich bin sehr zufrieden mit Björns Arbeit.
Er hat gemacht, was alle Manager machen: kurz mal 10'000 Stellen abgebaut und 45 Standorte geschlossen.
Jetzt übertreiben Sie aber, und das stimmt so auch nicht: Wir haben ein neues, dezentrales Modell eingeführt und unser Portfolio verschlankt. Gewisse Geschäfte haben wir verkauft, aber die Stellen und die Standorte gibt es nach wie vor. Ob ABB draufsteht oder nicht, ist nicht entscheidend.
Sind Sie stolz, dass Sie in Björn Rosengren den Richtigen gefunden haben – oder wurmt es Sie, dass Sie den erfolglosen Vorgänger Ulrich Spiesshofer nicht früher ausgewechselt haben?
Alles hat seine Zeit. Deshalb bin ich sehr zufrieden mit dem, was wir erreicht haben: Ich habe den Verwaltungsrat umgebaut und dann kurzzeitig als CEO den Konzernumbau in die richtigen Bahnen gelenkt. Für das braucht es breite Schultern, ich kann auch ein paar Schläge von Investoren einstecken. Es hat diese Zeit gebraucht, um mit Björn den idealen CEO für die Zukunft zu finden.
Über die Bedeutung der Schweiz für ABB
Einst hatte die BBC in Baden 22'000 Mitarbeitende, heute hat ABB in der Schweiz noch 4000 Angestellte – einen Bruchteil der weltweit 105'000.
Die Wurzeln des Konzerns liegen in der Schweiz und in Schweden – und das wird auch so bleiben. Jeder erfolgreiche Konzern braucht seine historische Verankerung. Die Zahl der Angestellten in der Schweiz ist seit einigen Jahren ziemlich stabil. In Untersiggenthal investieren wir gerade 40 Millionen Franken, die grösste Investition von ABB in der Schweiz seit zehn Jahren! Das zweite Standbein ist Forschung und Entwicklung in Dättwil. Und wie Sie wissen, komme ich aus einer Brown-Boveri-Familie ...
… Ihr Vater war Montagechef bei der BBC ...
… auch mein Schwiegervater und meine Frau arbeiteten dort, ebenso ich selber in jungen Jahren. Zusammen kommen wir auf mehr als 130 Jahre BBC und ABB (lacht). Da ist viel emotionales Herzblut dabei.
Warum hat es ausser Ihnen keinen anderen Schweizer in Verwaltungsrat und Konzernleitung?
Der Pass spielt heute keine Rolle mehr. Wir sind eine globale Firma. Verwaltungsrat und Geschäftsleitung sind trotzdem stark verwurzelt in der Schweiz und in Schweden. Das wird sich auch langfristig nicht ändern. Die ABB weiss um den Wert ihrer Swissness.
Ist der Hauptsitz Schweiz sakrosankt?
Die Historie einer Firma ist enorm wichtig. Unser Hauptsitz ist in der Schweiz, also bleibt er auch in der Schweiz. Punkt.
Und Sie bleiben bis zur Pension ABB-Präsident?
Ehrlich gesagt hätte ich Mühe, meine Karriere in einem Start-up ausklingen zu lassen, obwohl mich diese Welt fasziniert. Doch ich brauche diese industrielle Verankerung. Ich bin absolut motiviert, engagiert und liebe diese Firma.
Über die Elektromobilität
ABB wirbt mit der «weltweit schnellsten Ladesäule für Elektroautos». Bis wann werden wir alle Elektroautos fahren?
Wenn Sie sehen, wie sich die Hersteller konventioneller Fahrzeuge jetzt komplett neu ausrichten, wird es sehr schnell gehen, bis sich E-Mobilität durchsetzt. ABB ist Weltmarktführer bei den Ladestationen. Das hat enorm Potenzial. Deshalb bringen wir diesen Bereich an die Börse. Wir behalten die Mehrheit, und auch der Name ABB bleibt.
Sie selber fahren in der Freizeit gerne einen Benziner. Ist damit bald Schluss?
Ich glaube nicht an das Ende des Benziners. Neben den Stromern wird es ein Mosaik unterschiedlicher Antriebe geben. Etwa Wasserstoff bei schweren Fahrzeugen wie Lastwagen, Bussen, Schiffen und Zügen.
In den nächsten Jahren schalten wir die Atomkraftwerke ab, neue Stauseen will auch niemand. Woher soll der Strom kommen?
Die steigende Nachfrage werden wir bewältigen können: mit erneuerbaren Energien, inklusive Wasser. Aber auch mit Ländern, die wieder auf nuklearen Strom setzen. Sorgen machen mir vielmehr die Ladeinfrastruktur und das weltweite Stromnetz: Ich bin nicht sicher, ob es die enorme Nachfrage bewältigen kann.
Wo liegt das Problem?
Nehmen wir die Schweiz, die einen grossen Anteil von Mietliegenschaften und Tiefgaragen hat. Die müssen alle für viel Geld um- und aufgerüstet werden. Das Problem ist nicht der Lader oder die Strommenge, sondern der Aufbau der notwendigen Infrastruktur.
Rufen Sie jetzt nach dem Staat?
Ich bin kein Freund von Staatslösungen. Das ist Sache der Industrie.
Über Zinsen, Inflation, den starken Franken und seine Vorsätze für 2022
Der Franken wird stärker und stärker. Warum ist das für die Exportwirtschaft plötzlich kein Problem mehr?
Die Schweizer Exportindustrie ist sehr pragmatisch und hat sich an den starken Franken angepasst.
Dann hätte es die jahrelange Intervention der Nationalbank nicht gebraucht.
Die Situation jetzt ist eine andere: Die Euro-Inflation ist wesentlich höher. Der starke Franken gleicht das ein wenig aus, und so kann die Exportindustrie höhere Preise durchsetzen. Die Nationalbank hat einen guten Job gemacht, und ich hoffe stark, dass sie nicht verpolitisiert wird.
Wie stark sorgt Sie die Inflation?
Die Teuerung von 6,8 Prozent in den USA besorgt mich. Irgendwann wird der Konsument diese Preise nicht mehr tragen können. Ich gehe aber davon aus, dass die Inflation 2022 unter Kontrolle gebracht wird
Was erwarten Sie bei den Zinsen?
Die Zentralbanken werden vorsichtig sein. Wir werden 2022 aber gewisse Zinserhöhungen in Kauf nehmen müssen. Hier wird die US-Notenbank Fed führend sein. Die EZB wird folgen, die Nationalbank ebenfalls, aber mit Verzögerung.
Was erwarten Sie 2022 für ABB?
Rund 60 Prozent unserer Divisionen sind im Wachstumsmodus. Wir rechnen mit einer robusten Nachfrage, neuen Bestellungen und weiterem Wachstum, trotz den Störungen in der Lieferkette.
Was haben Sie sich privat vorgenommen?
Bislang sind meine Familie und ich zum Glück vom Coronavirus verschont geblieben. Wir sind alle geimpft und sehr vorsichtig. Hoffentlich bleiben wir gesund. Es gibt da nämlich ein paar Projekte, wir bauen beispielsweise ein neues Haus in der Natur und werden den Aargau verlassen. Allerdings müssen wir noch auf Holz warten, das bekommt man praktisch nicht mehr.
Peter Voser (63) ist seit 2015 Verwaltungsratspräsident des Technologiekonzerns ABB (105'000 Angestellte in mehr als 100 Ländern, 26 Milliarden Franken Umsatz). ABB entstand aus der Fusion zwischen dem Schweizer Industrieriesen BBC und der schwedischen Asea. Schon Vosers Eltern waren bei BBC angestellt. Er arbeitete zuvor für Shell, von 2009 bis 2013 als Konzernchef. Voser ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder und hat zwei Enkelkinder.
Peter Voser (63) ist seit 2015 Verwaltungsratspräsident des Technologiekonzerns ABB (105'000 Angestellte in mehr als 100 Ländern, 26 Milliarden Franken Umsatz). ABB entstand aus der Fusion zwischen dem Schweizer Industrieriesen BBC und der schwedischen Asea. Schon Vosers Eltern waren bei BBC angestellt. Er arbeitete zuvor für Shell, von 2009 bis 2013 als Konzernchef. Voser ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder und hat zwei Enkelkinder.