Russen-Star und Gasparin-Ehemann Ilja Tschernoussow will bei Olympia 2022 für die Schweiz starten
«Ich habe mich in dieses Land verliebt»

Für Russland holte er einst Medaillen, ehe er untertauchte. Jetzt will Langläufer Ilja Tschernoussow im Schweizer Trikot zurück an die Spitze. Das alles nicht wegen den Doping-Wirren in Russland, sondern wegen der Liebe.
Publiziert: 02.06.2020 um 23:06 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2020 um 08:17 Uhr
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Es ist keine fünf Jahre her, da mischte Ilja Tschernoussow noch vorne im Langlauf-Weltcup mit.
Foto: TOTO MARTI
Stefan Meier (Text) und Toto Marti (Fotos)

BLICK: Wir haben schon einmal ein Gespräch über einen Nationenwechsel geführt. 2015 sagten Sie, dass Sie noch nie darüber nachgedacht hätten. Was hat sich geändert?
Ilja Tschernoussow: Damals war so ein Gedanke auch noch weit weg. Es fing 2016 an. Ich konnte das Familienleben in der Schweiz nicht mit der Nationalmannschaft in Russland vereinbaren. Ich wollte mehr bei meiner Familie sein, darum habe ich das Team verlassen. Aber ich will meine Karriere noch nicht beenden, darum probiere ich nun, für die Schweiz zu starten. Nach vier Jahren kann ich das nun und es wäre sehr schön, wenn es klappen würde. Ich habe zwar vier Jahre Langdistanz-Rennen bestritten und das war interessant, eine gute Erfahrung. Aber es ist nicht das, was ich möchte. Der Weltcup ist eine andere Liga.

Dann verzichteten Sie vor vier Jahren für die Familie auf Ihre Karriere?
Ich hätte im Team bleiben können, aber ich wäre jeden Monat sicher drei Wochen unterwegs gewesen. Und ich will nicht, dass meine Töchter ohne mich aufwachsen. Viele Athleten sind viel unterwegs und machen das. Aber für mich war es der wichtigste Wunsch, zu sehen, wie sie aufwachsen.

Und nun ist das Ziel die Rückkehr an die Spitze im Weltcup?
Ich habe die Motivation. Aber es wird nicht einfach. Ich werde viel trainieren müssen diesen Sommer. Und dann starte ich den Versuch, den Schweizer Pass zu erhalten. Ich muss Glück haben, damit es vielleicht etwas schneller geht. Das Ziel wäre, 2022 bei Olympia in Peking für die Schweiz antreten zu können. Es wäre schön, wenn das möglich wäre.

Was fehlt noch für einen Wechsel?
Ich habe das Okay vom Weltverband FIS. Da sind alle Dokumente da und das Einverständnis. Dieser Schritt ist gemacht. Jetzt muss ich die Einbürgerung schaffen und das kann ich bald einmal probieren. Ich bin dann genug lange da und mit Selina verheiratet. Aber ich mache das nicht nur für den Sport.

Wofür sonst?
Ich möchte in der Schweiz leben und irgendwann den Pass erhalten. Ich bin hier mit meiner Familie. Ich habe eine hübsche Schweizer Frau, meine zwei Kinder sind Schweizerinnen. Also ist es klar nicht nur ein sportlicher Entscheid. Schon als ich das erste Mal in die Schweiz kam, habe ich mich verliebt in dieses Land. Es ist sehr schön. Ich liebe die Berge und die Natur. Und es ist super für das Training hier. Es ist das Land, wo ich leben will. Das sind mehr als genug Gründe für mich, den Pass zu beantragen.

Wie genau planen Sie mit Swiss Ski?
Dafür ist es noch viel zu früh. Zuerst muss ich mal Schweizer werden, das ist das erste Kriterium. Dann kommt Swiss Ski. Ich habe noch nicht viel mit ihnen gesprochen.

Was sagt der russische Verband, dass sie wechseln wollen?
Das ist erledigt. Ich bin vier Jahre nicht für Russland gestartet und war in der Schweiz. Von daher brauche ich kein Okay von ihnen. Aber der russische Verband hat alle Dokumente erhalten und es ist kein Problem. Ich habe aber mit niemandem gesprochen.

Ist ein Nationenwechsel heikel? Die Russen sind schliesslich sehr stolz auf ihre Nation. Werden sie als Verräter abgestempelt werden?
Das wurde ich schon einmal, aber das war nur eine einzelne Person. Nein, ich denke, das ist ganz normal und ich bin ja auch nicht der erste Athlet, der geht. Meine Freunde in Russland reagieren positiv, das ist für sie alle kein Problem. Im Gegenteil: Ich werde schon lange gefragt, warum ich nicht längst für die Schweiz im Weltcup starte. Die Leute verstehen nicht, dass es etwas Zeit brauchte, bevor das nun möglich werden kann.

Als Russe stehen sie unter Generalverdacht. Bei internationalen Grossanlässen wie Olympia dürften Sie nur unter neutraler Flagge starten. Ist das mit ein Grund für den Wechsel?
Nein. Ich weiss, dass die Situation schwierig ist, aber ich habe nicht so gedacht. Der erste Grund ist, dass ich hier lebe. Ich sehe den Rest meines Lebens hier mit meiner Familie. Der zweite Grund ist, dass es die einzige Möglichkeit für mich ist, wie ich meine Karriere fortsetzen kann. Zum Thema Doping habe ich keine Kompetenz und will nichts dazu sagen. Nur so viel: Es ist einfach schade, immer wieder die Meldungen zu hören. Ich bin aber überzeugt, dass viele Athleten mit Nulltoleranz trainieren. Das ist mein Glaube und meine Hoffnung. Und bei mir selber war es auch immer so.

Eine Bedingung für das Interview war, dass sie Deutsch sprechen wollen aus Gründen der Integration.
Es ist schwierig, aber ich versuche immer, Deutsch zu sprechen. Egal ob mit Freunden oder beim Einkaufen. Oder auch, wenn ich ab und zu Trainings für Kinder ausrichte. Ich muss es ja auch lernen, damit ich den Test bestehen kann. Ich versuche, alleine zu lernen. Ich spreche mit allen Leuten Deutsch und das hilft. Ich versuche auch, zu schreiben. Und ich glaube, ich verstehe und spreche immer besser.

Wie sieht es mit Ihrem Rätoromanisch aus?
Ach, das sind es nur einzelne Wörter. «Bun di» (guten Tag), «allegra» (Grüezi) und «grazia fitg» (vielen Dank). Meine ältere Tochter geht ja jetzt in den Kindergarten und dort lernt sie jede Woche Wörter. Da schnappe ich dann jeweils auch noch etwas auf. Aber sie lernen viel schneller als ich.

Sprechen Sie russisch mit Leila und Kiana?
Ja, mit den Kindern spreche ich russisch. Ich habe gerne, dass sie meine Sprache lernen.

Und Selina bringen Sie es auch bei?
Momentan unterhalten wir uns vor allem auf Deutsch, damit ich es lerne. Das Russisch kommt dann vielleicht danach dran.

Sie wohnen seit 2015 in der Schweiz. Ist sie mittlerweile Ihre Heimat?
Ja, das kann ich sagen. Ich fühle mich hier daheim. Das war schon im Engadin so, in S-chanf. Aber hier in Lenz noch viel mehr, mit dem Haus und den Kindern. Es gefällt mir sehr gut. Die Aussicht, unser kleiner Garten. Und die Leute sind sehr nett.

Was schätzen Sie am meisten an den Leuten?
Ich finde, es sind alle sehr freundlich. Und alle lieben die Natur. Ich kenne natürlich nicht alle und vielleicht ist das ja nur hier so. Es ist anders, als in Russland. Es sind alle sehr offen. Und ich fühlte mich auch von Anfang an willkommen. Ich hoffe, ich kann irgendwann mit dem Sport auch ein bisschen helfen und etwas zurückgeben.

Was vermissen sie aus Russland?
Im Moment denke ich nicht, dass ich irgendwas vermisse. Ich war vor zwei Jahren das letzte mal da und habe meine Familie besucht und meine Mutter war auch schon hier. Wir sind ständig in Kontakt. Aber mein Glück habe ich mit meiner Familie hier.

Vielleicht noch ein paar Worte zu Selina. Wie sehr staunen Sie, wie Ihre Frau Karriere, Geburten und Mutterschaft unter einen Hut bringt?
Sie ist stark. Nicht nur hübsch, sondern auch sehr stark. Sie hat so viel Energie und Motivation, das ist unglaublich. Ich bin sehr glücklich, so eine super Frau gefunden zu haben.

Selinas Reisen im Biathlon-Weltcup dauern länger als die Eintagesrennen von Ihnen. Sind Sie da mehr Hausmann und unterstützen sie so?
Ja, dann bin ich der Hausmann. Ich bin etwas weniger lang unterwegs, jeweils drei bis vier Tage. Das organisieren wir dann mit der Nanny oder den Grosseltern. Man muss viel planen und ich bin dann mehr zu Hause mit den Kindern. Diese Zeit ist wirklich sehr schön. Erst gestern habe ich ein neues Wort gelernt. Vergnügen. Ich kann wirklich sagen, ich habe Vergnügen mit den Kindern.

Ilja Tschernoussow persönlich

Ilja Tschernoussow (33) stammt aus Nowosibirsk in Russland. Für die Langlauf-Nationalmannschaft seines Heimatlands holte er WM-Bronze 2011 (30 km) und Olympia-Bronze 2014 (50 km). Im Weltcup gelangen ihm zwei Siege, insgesamt stand er neun Mal auf dem Podest. In den letzten Jahren nahm er vor allem bei Langstrecken-Volksläufen teil wie dem Engadin Skimarathon, den er 2015 gewann. 2014 heiratete er die Schweizer Biathletin Selina Gasparin (36), seit 2015 wohnt er in der Schweiz. Damit kann er bald ein Gesuch für die erleichterte Einbürgerung stellen – dafür muss man fünf Jahre in der Schweiz wohnen und drei Jahre verheiratet sein. Das Paar hat zwei Töchter: Leila kam 2015 zur Welt, Kiana 2018.

Ilja Tschernoussow (33) stammt aus Nowosibirsk in Russland. Für die Langlauf-Nationalmannschaft seines Heimatlands holte er WM-Bronze 2011 (30 km) und Olympia-Bronze 2014 (50 km). Im Weltcup gelangen ihm zwei Siege, insgesamt stand er neun Mal auf dem Podest. In den letzten Jahren nahm er vor allem bei Langstrecken-Volksläufen teil wie dem Engadin Skimarathon, den er 2015 gewann. 2014 heiratete er die Schweizer Biathletin Selina Gasparin (36), seit 2015 wohnt er in der Schweiz. Damit kann er bald ein Gesuch für die erleichterte Einbürgerung stellen – dafür muss man fünf Jahre in der Schweiz wohnen und drei Jahre verheiratet sein. Das Paar hat zwei Töchter: Leila kam 2015 zur Welt, Kiana 2018.

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