Im Schweizer Bobsport wird das Eis immer dünner. Und das liegt nicht an der Hitzewelle im Land. Sondern an der Rücktrittswelle, die mit Pilot Clemens Bracher (31) ihren überraschenden Höhepunkt erlebt.
Der Emmentaler hört nicht ganz freiwillig auf: «Es tut extrem weh. Aber ich musste einen Grundsatzentscheid fällen.» Er macht den Abgang seines besten Anschiebers, Michael Kuonen, und die Finanznot geltend. Bracher fehlen im 250 000-Franken-Budget für die Saison rund 50 000 Franken. Mit ihm verliert der Eiskanal-Verband Swiss Sliding den letzten Weltcup-Fahrer. Zuvor hatten im Winter bereits Beat Hefti (40) und Rico Peter (34) aufgehört.
Es ist nach den schwachen Olympischen Spielen ohne Medaillen der nächste Tiefpunkt in der schillernden Schweizer Bob-Geschichte. Beat Hefti ist mit seinem nachträglichen Olympia-Triumph 2014 in Sotschi (Sieger Subkow des Dopings überführt) der bisher letzte Goldgewinner. Jetzt sagt der Appenzeller: «Es ist schade, dass der Bobsport in dieser Lage steckt. Hätte man das vor 20 Jahren vorausgesagt, hätten alle den Kopf geschüttelt. Das war undenkbar gewesen.»
Piloten ohne Weltcup-Erfahrung
Der Verband geht ohne Pilot mit Weltcup-Erfahrung in den kommenden Winter. Das gabs noch nie. «Es wirkt planlos», sagen Hefti und Bracher unisono. Swiss-Sliding-Präsident Jürg Möckli verneint und sagt: «Wir beginnen nicht bei null, weil wir intensiv im Nachwuchs gearbeitet haben.»
Eine ganze Reihe junger Piloten steht bereit, die bisher Anschieber waren. Der Walliser Michael Kuonen (27), der Schwyzer Michael Vogt (20), Yann Moulinier (25) aus La Chaux-de-Fonds und der Solothurner Simon Friedli (27) sitzen neu selber an den Steuerseilen. Ob einer dieser Bob-Lehrlinge mal Weltklasse wie Erich Schärer, Gusti Weder oder Beat Hefti wird? Nicht abzusehen.
Selbst Möckli sagt: «Wir können nicht erwarten, dass die Jungen gleich auf Anhieb die Retter der Nation sind. Es wird diese Saison kaum Podestplätze geben.» Selbst Top-Ten-Ränge sind ambitioniert. Das Ziel ist, in der zweiten Saisonhälfte zwei Piloten im Weltcup zu haben. «Daneben muss die Ausbildung weiterlaufen und intensiv trainiert werden», sagt der Verbands-Boss. Aber die Lehrlinge müssen auch punkten, sonst droht der Verlust des zweiten Weltcup-Startplatzes.
Der erst 31-jährige Bracher hätte die Durststrecke abfedern können. Aber der Anfang von seinem Karriereende war der Wunsch seines Edel-Anschiebers Kuonen, selber zu fahren. Dass der Verband mit Nachwuchs-Chef Christoph Langen (zweifacher Olympiasieger für Deutschland) diesen Wunsch eher anschob statt stoppte, frustriert Bracher: «Es kann eigentlich nicht sein, dass Hefti und Peter aufhören und man dann mir auch noch die Mannschaft wegnimmt. Das Ziel muss doch sein, für Olympia 2022 ein starkes Team zu haben. Ich hätte weitergemacht, wenn ein starker Anschieber bei mir für vier Jahre unterschrieben hätte.»
Es ist die ewige Frage im Bobsport: Mit wem werden die Zweier- und Vierer-Schlitten besetzt? Der Kampf um die besten Bremser artete früher zeitweise aus, die Piloten lockten die Top-Anschieber mit hohen Salären. Der Verband will diese internen Grabenkämpfe nicht mehr. Möckli: «Es soll zentraler durch uns organisiert werden.» Wohl auch deshalb hat man sich nicht mehr für Brachers Verbleib eingesetzt, obwohl man den Rücktritt offiziell natürlich bedauert. Hefti, der sich im Laufe seiner Karriere viele Kämpfe mit den Verbandsbossen lieferte, sagt zum Anschieber-Thema nur: «Das war ja letztes Jahr schon das Problem. Man ist nur noch ein Ersatzteillager.»
Interesse an Sport schwindet
In einem Punkt sind sich der Verband und die zurückgetretenen Piloten einig. Auf die Bobnation warten magere Jahre. «Es geht sicher drei, vier Jahre bis die Schweiz wieder einen Toppiloten hat», sagt Bracher, der sich wohl ganz vom Bob abwendet, ihn reizt ein Job als Eishockey-Athletiktrainer.
Der Verband hingegen hofft, dass zumindest einer der Jungen wie Kuonen für Peking 2022 als Medaillenanwärter aufgebaut werden kann. Nachwuchs-Förderer Hefti fürchtet, dass ohne erfolgreiches Aushängeschild das Interesse am Sport schwindet: «2018 haben sie keine Olympia-Medaille geholt. Wenn es in Peking auch keine gibt, wird die Luft auch für eine traditionelle Sportart immer dünner!»