BLICK: Was hat das Eidgenössische Turnfest für eine Auswirkung auf den Breitensport?
Jürg Stahl:Eine grosse, nur schon, weil die mediale Dynamik bis zur Eröffnung des Fests in Aarau stark zugenommen hat. Das Eidgenössische, das nun zum 76. Mal in 187 Jahren stattfindet, hat eine faszinierende Geschichte. Vor rund 200 Jahren fuhr man noch keine Autos. Der gleiche Anlass wird im digitalen Zeitalter durchgeführt und heisst noch gleich, wie beim ersten Mal! Das bedeutet, dass in diesem Sport vieles richtig gemacht wurde.
Ab wann waren Sie mit dabei?
Ich erinnere mich noch genau an sämtliche Stationen. Vom Eidgenössischen 1972 – ebenfalls in Aarau – brachte mir mein turnbegeisterter Papi ein T-Shirt mit (siehe Bild). 1978 erlebte ich als zehnjähriger Fan, 1984 machte ich in meiner Heimat Winterthur mit. Seitdem habe ich bis auf 2007, wo ich Mitglied der Geschäftsleitung war, und 2013, als ich für den Zentralvorstand STV in Biel war, immer aktiv mitgeturnt.
Welche Funktion haben Sie beim diesjährigen Fest?
Ich mache als normaler Turner meiner Männer-Riege mit. Aber beim Turnfest geht es ja um viel mehr! Es ist eine Mischung aus dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, im Kollektiv etwas Gutes für Körper und Geist zu tun und sich gleichzeitig zu messen. Im Verbund ist das ziemlich einzigartig.
Vereint der Turnsport an sich all diese Komponenten?
Genau deshalb hat er alle Zeitalter bis heute überlebt. Einzigartig ist auch die Durchlässigkeit. Das Altersspektrum der Turnenden reicht vom Kleinkind bis zum Hundertjährigen. So gehe ich mit meiner dreijährigen Tochter ins ELKI-Turnen, gleichzeitig bin ich fünfzigjähriger Turnveteran im Verein. Die Durchlässigkeit führt auch zum Leistungssport. In keinem Sport gibt es eine so grosse Medaillensammlung bei Sommerspielen. Mit Turnstar Giulia Steingruber haben wir die nächsten zehn Tagen die beste Repräsentantin für den Breiten- und Nachwuchsport.
Wie wichtig ist der Sport für die heutige Jugend?
Sehr wichtig, und gut, dass durch das aktuelle Turnfest, wo über 20000 Kinder mitmachen, viel darüber geredet wird. Im Vorfeld gab es viele kleinere, regionale Turnanlässe, für die trainiert wurde – schon das hat grossen Einfluss. Viele ehrenamtliche Trainer sorgen für die Bewegung der Jugend. Grundsätzlich gilt: Bewegungsaktive Eltern begleiten ihre Kinder zu sportlicher Aktivität. Der momentane Aufschwung in der Schweiz zeigt, dass es zum digitalen auch ein analoges Bedürfnis gibt. Die heutige Jugend hat andere, neue Kompetenzen wie Social Media. Aber das eine tun, muss nicht bedeuten, das andere zu lassen.
Unternimmt Swiss Olympic etwas dafür?
Vor eineinhalb Jahren wurde in der Volksschule das Projekt «Schule bewegt» mit neuen Lehrmitteln eingeführt und wir unterstützen das unbedingt weiter. Von Bund und Kanton steht heute mehr Geld zur Verfügung und es wird bewusst mehr in die Nachwuchsförderung investiert. Darin hat sich entsprechend viel bewegt. Wichtig ist aber die Interaktion im Dreieck «Nachwuchs-, Breiten- und Leistungssport». Eine Spitze gibt es nur, wenn die Breite da ist, diese gibt es nur durch den Nachwuchs.
Warum turnen heute immer mehr Mädchen?
Es stimmt, noch 2008, als ich dem Exekutivrat von Swiss Olympic beitrat, gab es bei den Sommerspielen in Peking mehr Medaillen bei den Männern. Das ist heute viel ausgeglichener. Die Gender-Frage findet im Turnsport nicht statt, die Gleichstellung wird völlig unverkrampft gelebt. Die Buben zieht es häufiger zum Fussball. Das Grazile, Musische und Tänzerische am Turnen spricht viele Mädchen an – das liegt wohl an der Natur. Meine Tochter böllelet auch gern mal mit mir, aber noch lieber zeigt sie mir einen Purzelbaum...