Schmerz ist ihr treuster Begleiter
So leidet Giulia für ihre Karriere

Bänderrisse, Ermüdungsbrüche und eine Rückenverletzung - Giulia Steingruber kämpft immer wieder mit Verletzungen. Die Ostschweizerin weiss: «Im Turnen hast du immer irgendwo ein Wehwehchen.»
Publiziert: 31.10.2015 um 23:45 Uhr
|
Aktualisiert: 30.09.2018 um 22:25 Uhr
1/6
Aua! Guilia Steingruber stürzt bei der Landung im WM-Final in Glasgow.
Foto: EPA
Von Cécile Klotzbach

Giulia Steingruber setzt den Tunnelblick auf, läuft los, springt – ihr «Tschussowitina» gelingt. Ein kleiner Ausfallschritt auf die Seitenlinie ist der einzige Schönheitsfehler.

Zweiter Sprung, sie setzt zum «Jurtschenko» an. Dann der Schock: Giulia fliegt und landet nach der Doppelschraube in Rücklage – der Stoss des schrägen Aufpralls zuckt durch ihren Körper. Erst durch die Fussgelenke, dann durch die Knie, den Rücken. Benommen sitzt sie auf der Matte, nach ihrer ersten Handbewegung ist klar: Besonders weh hat es im rechten Knie getan.

Die 21-jährige Gossauerin wird gestützt, dann mit dem Rollstuhl aus der Halle gebracht. Wie die Sprung-Europameisterin Maria Paseka (Russ) die nordkoreanische Titelverteidigerin Hong Un Jong und US-Mehrkampf-Queen Simone Biles auf die Ränge 2 und 3 verdrängt, bekommt Steingruber nicht mehr mit.

Sie selbst fällt auf den geteilten, letzten Platz 7 zurück. Auch ohne Sturz läge sie ausserhalb der Medaillen-Ränge. Sicher ist: Bis Olympia muss und will die dreifache Europameisterin ihr Sprungrepertoire steigern.

Glück im Unglück: Bänder unverletzt

Kurz nach dem Wettkampf – Giulia ist bereits im Hotel – eine leichte Entwarnung: Nach ersten medizinischen Abklärungen liegt keine Bänderverletzung vor.

Der Traum von der ersten WM-Medaille ist für Steingruber, die schon sechs EM-Medaillen gesammelt hat, aber wohl endgültig geplatzt.

Auch am heutigen Bodenfinal, wo sie mit ihrer anspruchsvollen Übung eine kleine Chance aufs Podest gehabt hätte, dürfte körperlich angeschlagen wenig auszurichten sein. Wenn Giulia überhaupt turnen kann.

Platz 5 im Mehrkampf herausragend

Von der WM in Glasgow bleibt der Europameisterin im Mehrkampf Rang 5 in der Königsdisziplin. Auch wenn dieses Resultat auf den ersten Blick nicht wie Edelmetall glänzt, so ist es doch hochkarätig.

Zu den fünf besten Allrounderinnen der Welt zu gehören, ist für eine Athletin aus dem Wohlstandsland Schweiz ein Novum – und kann nicht genug gewürdigt werden. Denn diese eiserne Psycho-Weltsportart ist so zeitintensiv, gefährlich und schmerzhaft wie kaum eine andere.

Schmerz ist der treuste Begleiter der Turnerinnen und Turner, die sich schon als kleine Kinder an ihn gewöhnen müssen. Nur die Härtesten, Fleissigsten und Ehrgeizigsten schlucken die unendlich vielen Tränen runter und beissen sich durch. 

Zu diesen Ausnahmen gehört Steingruber seit dem sie sieben Jahre alt ist. Auch sie hat ihre Leidensgeschichte – wenn auch eine relativ harmlose.

Zu ihrer Verletzungs-Liste gehören «nur» drei Bänderrisse, ein Anriss und eine Bänderdehnung an den Füssen, zwei Ermüdungsbrüche in den Zehen, eine Knie- und eine Rückenverletzung. Sowie Schnitte an den Unterseiten ihrer Handgelenke, die durch Reibung am Barren-Leder erfolgen und immer wieder aufschürfen. «Das tut weh. Aber irgendwann spürst du es nicht mehr», erklärte sie einst abgebrüht. 

Was hat die 1,60 m-kleine, blonde St. Gallerin mit dem Puppengesicht nur so hart im Nehmen gemacht? Hat sie das Aufwachsen mit ihrer geistig und körperlich schwer behinderten Schwester Desirée, die ihm Rollstuhl sitzt, so geprägt? Sind es die vielen wegen Trainings verpassten Kindergeburtstage an Mittwochnachmittagen? Oder kann sie, die als 14-Jährige Mama Fabiola und Papa Kurt für das Leistungszentrum in Magglingen verliess, nach dem bitteren Heimweh nichts mehr erschüttern?

Einen Tag vor dem gestrigen fatalen Samstag hatte Steingruber SonntagsBlick erklärt, warum jahrelanger Drill die Schmerzgrenze verschiebt: «Im Turnen hast du immer irgendwo ein Wehwehchen. Man lernt von klein auf, wie man damit umgehen muss. Mit der Zeit kennst du deinen Körper und weisst, was gravierend sein könnte.»

Giulia weiss, wie sie ihre lädierten Körperteile behandeln muss, wann kühlen, wann wärmen, wann sie die Zaubercrème ihres Trainers Zoltan Jordanov auf die wunden Handgelenke schmieren oder ihre losen Fussgelenke tapen muss.

Im Training spürt sie noch immer ihren Rücken, den sie sich vor zwei Monaten beim Training am Stufenbarren überstreckt hat. «Aber in den Wettkämpfen denkst du nicht daran. Schon wegen dem Adrenalin spürst du nichts.»

 Angst vor Verschleiss und Spätfolgen hat sie nicht. Wichtig sei vor allem, keine Angst vor dem Schmerz zu haben. «Der ist vielmehr ein Signal des Körpers für eine Pause.»

Verletzungs-Horror

Vor dieser und dem damit verbundenen Trainingsausfall, der die Kunstturner weit zurückwerfen kann, besteht indes der blanke Horror.

In einem früheren Interview gab Giulia zu, dass Verletzungen die grösste Herausforderung im Kunstturnen bedeuten – mehr noch als die hohen technischen Anforderungen.

Ihre ärgste Verletzung habe sie im September 2008 am Fuss erlitten, als sie nach der OP sechs Wochen lang Gips tragen und weitere vier Wochen aussetzen musste.

So schlimm dürfte es um Giulias Knie nicht stehen. Ihr heutiger, letzter Auftritt in Glasgow ist dennoch in Gefahr. Das traurige Ende eines WM-Traums.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?