Der Stein kommt im Sommer ins Rollen. Damals erheben Gymnastinnen im BLICK Quälvorwürfe gegen Nationaltrainerin Iliana Dineva, welche die Bulgarin schliesslich den Kopf kosten. Und jetzt, noch während eine externe Untersuchung der Sparte der Rhythmischen Sportgymnastik beim Schweizerischen Turnverband STV läuft, folgen die nächsten schweren Anschuldigungen. Im Zentrum der Vorwürfe steht Fabien Martin, der Frauen-Nationaltrainer im Kunstturnen.
Im «Magazin» des «Tages Anzeiger» packen Lynn Genhart (18) und Fabienne Studer (19) aus. Sie beide waren ab 2016 als Kunstturnerinnen im nationalen Leistungszentrum in Magglingen. Für Gerhart kam das Ende 2019, für Studer in diesem Jahr.
«Fabien hatte verschiedene Strategien, uns fertig zu machen», sagt Genhart und attackiert den Coach von Giulia Steingruber frontal. Ein Beispiel: «Er hat uns runtergemacht wegen dem Essen, dem Gewicht.» Monatlich hätten sie auf die Waage gemusst. «Sie sagten, wir seien müde, weil wir zu dick seien. Dabei waren wir müde wegen der psychischen Belastung. Wir waren kraftlos, willenlos. Noch heute denke ich, wenn ich müde bin: Das ist wohl wegen dem Gewicht.»
«Ich sei als Mensch unfähig, ich sei dumm»
Genhart wurde 2014 in Bern Vize-Europameisterin bei den Juniorinnen im Mehrkampf. Die Freude über diesen Erfolg ist längst weg. «Ich wurde fertig gemacht. Ich sei als Mensch unfähig, ich sei dumm. Man sagte mir, immer vor allen anderen: Was ich eigentlich das Gefühl hätte, wer ich sei, eine Topturnerin?!. ... Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die Silbermedaille an der EM damals in Bern verdient war. Ich glaube heute, dass das einfach Glück war, weil alle um mich herum gestürzt sind.»
Das meint BLICK zum STV-Skandal
Wenn die Trainer ein Gespräch mit dem STV gehabt hätten, sei es immer besonders schlimm geworden, «der Horror», so Genhart. «Es wurde herumgeschrien, alle wurden fertig gemacht … Für die einen war das körperlich ein Problem. Andere, wie ich, gingen psychisch kaputt ... Jeden Tag hat jemand geweint bei uns, jeden Tag.»
Mit den Turnerinnen seien Psycho-Spiele gespielt worden. «Du wurdest fertig gemacht und im nächsten Moment wieder verschätzelet. Sie küssten und umarmten uns, nahmen uns die Gründe zu rebellieren. Ich war hin- und hergerissen», erzählt Genhart. «Jedes Mal, wenn wir dachten, jetzt gehts dann nicht mehr, waren sie lieb, bis sie uns wieder hatten.»
«Ich hatte Suizidgedanken»
Bei Genhart endete der Traum vom Spitzensport beinahe in einer Tragödie. «Eines Abends sass ich in meinem Zimmer in Magglingen und überlegte: Aufhören oder nicht? Ich weinte, sass nur noch da. Mitten in der Nacht holte mich mein Papi. Wir gingen zum Notarzt. Die Diagnose: Akute Depression. Ich hatte Suizidgedanken. Eine Weile mussten mich meine Eltern überallhin begleiten, weil sie Angst hatten, dass ich sonst nicht mehr heimkomme.»
Sie hat sich mit Fabien Martin ausgesprochen. Seine Absichten seien nicht bösen gewesen, so Genhart. «Er hat mir das so gesagt: ‹Lynn, was soll ich machen? Ich sitze beim STV-Gespräch, sechs andere Leute sind da, machen mich fertig. Stell dir mal vor, wie ich mich fühlen muss.› Da war für mich klar: Die Trainer sind hier irgendwo auch Opfer, in diesem System.» Das Problem liege demnach also vielmehr im STV selbst als beim Trainer.
Fabienne Studer erzählt, dass Martin sie von Anfang an auf dem Kieker gehabt habt. «Ich glaube, Fabien hat sich fast vom ersten Tag an über mich genervt. Aber ich war fünfzehn, war fröhlich, machte Witze. Er sagte, ich sei schneller wieder daheim, als ich denken könnte.»
Drohungen als «Teil der Angstkultur»
Nach zwei Stürzen an der WM habe er sie persönlich angegriffen. «Er sagte, ich sei eine Riesenenttäuschung, ich hätte ihn blamiert, ihn störe auch wahnsinnig, wie ich mich ernähre.» Die Turnerinnen der anderen Nationen standen daneben, hätten alles gehört. «Später fragte er mich, was ich über den Zusammenschiss denke. Ich sagte, so mache Turnen keinen Spass. Er sagte, er hätte gewusst, dass ich so antworten würde, ich sei feige und faul und hätte nicht die Kraft, zu kämpfen.»
Seine Drohungen über einen Rausschmiss seien «Teil der Angstkultur», die in Magglinen herrsche. «Fabien nutzte seine Autorität und versuchte, Macht über mich auszuüben.»
Bei Studer sei das Gewicht immer wieder ein grosses Thema gewesen. «Ich war dünn damals. Aber Fabien sagte, ich würde zu viel Süsses trinken. Sah er mich mit einer Cola, rief er meine Mutter an. Bald sagte er es jeden Tag: Ich sei zu dick, er habe Angst, dass ich noch vom Stufenbarren falle, so schwer sei ich.»
Fabien Martin, seit 2017 Cheftrainer der Kunstturnerinnen, will sich im «Magazin» nicht zitieren lassen. Der STV schreibt zu den Vorwürfen: «Wir sind uns bewusst, dass es zwischen Fabien Martin und zwei Turnerinnen zu Meinungsverschiedenheiten über die sportlichen Ziele und das Erreichen dieser Ziele gekommen ist. Leider können im Trainingsbetrieb solche Meinungsverschiedenheiten auftreten. Auf Basis unserer Gespräche mit den Beteiligten, aufgrund der Erfahrungen mit Fabien Martin als langjährigem Trainer des STV und aufgrund der guten Feedbacks zu Martin aus dem Trainingsumfeld des Nationalkaders haben wir weiterhin volles Vertrauen zu ihm als Cheftrainer.»