Aly Raisman ist 15 Jahre alt, als sie Dr. Larry Nassar erstmals begegnet. Der Arzt des amerikanischen Turn-Teams ist zuvorkommend, gewinnt rasch das Vertrauen der jungen Athletin. «Er hat mir oft Geschenke und Dessert gebracht», erzählt Raisman. Auch darum habe sie gemeint, Nassar sei «ein guter Mensch.» Heute denkt sie anders. Mittlerweile 23 Jahre alt und dreifache Olympiasigerin, sagt Raisman über Nassar in der Sendung «60 Minutes» klipp und klar: «Er ist ein Monster.»
Mehr als 130 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs zeugen davon, dass Raisman in ihrem Urteil nicht übertreibt. Längst sitzt Nassar in Untersuchungshaft – wenn auch nicht wegen derer Anklagen, sondern auf aufgrund des Besitzes von Kinderpornographie (37'000 Bilder und Videos). Trotzdem wird er sich daran gewöhnen müssen, hinter Gittern zu sitzen. Denn: Zwischen 1996 und 2015 soll sich an diversen Turnerinnen, die er betreute, systematisch vergangen haben. Auch an Raisman. Sie blickt zurück: «Uns wurde gesagt, wir sollten uns glücklich schätzen, ihn sehen zu dürfen.» Sie habe gedacht, dass Nassar nur das Beste für sie will: «Ich sagte: Naja, seine Berührungen gefallen mir nicht, aber er ist so nett zu mir.»
Nicht nur Nassar muss für seine Taten büssen
Konkreter wird die Frau aus Massachusetts (USA) nicht. Dafür aber Jamie Dantzscher (35), die bei Olympia 2000 in Sydney Bronze holte. Bereits 2016 spricht sie von einer Begegnung mit Nassar: «Ich hatte im unteren Rückenbereich starke Schmerzen. Er hat seine Finger in meine Vagina gesteckt, meine Beine bewegt und gesagt, dass es gleich ein Knacken geben und ich mich dann besser fühlen würde.»
Auch McKayla Maroney (21), Teil des US-Gold-Teams von London 2012, twittert vor wenigen Wochen: «Dr. Larry Nassar hat mich missbraucht. Es begann, als ich 13 war, in einem Trainingscamp in Texas. Und es endete erst, als ich mit dem Sport aufhörte.» Selbst unmittelbar vor den Wettkämpfen sei sie «behandelt» worden, so Maroney. Die junge Frau spricht auch offen von der schlimmsten Nacht ihres Lebens. «Ich war 15 Jahre alt. Er gab mir eine Schlaftablette für einen Flug nach Tokio. Das nächste, woran ich mich erinnerte, war dass ich alleine mit ihm in einem Hotelzimmer war und eine ‹Behandlung› erhielt. In dieser Nacht dachte ich, ich würde sterben.»
«Ich erkannte die Signale nicht»
Für Maroney, Dantzscher und Raisman ist klar: Nicht nur Nassar muss für seine Taten büssen. Nein, auch der US-Verband hat versagt. «Niemand hat mich je geschult, mir gesagt, ich solle nicht alleine in einem Raum mit einem Erwachsenen sein. Ich erkannte die Signale nicht, wusste nicht einmal, was sexueller Missbrauch wirklich ist», so Raisman. Aber warum spricht die zweifache Weltmeisterin erst jetzt, also acht Jahre nach der ersten Begegnung mit Nassar? Ganz einfach: Vorher fühlte sie sich dazu psychisch nicht in der Lage. Und sowieso, entgegnet sie: «Warum die Frauen? Warum wird hier nicht die Kultur hinterfragt oder der Verband?»
Tatsächlich entliess man Nassar erst vor zwei Jahren, um kurz darauf das FBI einzuschalten. Trotz klarer Hinweise. Sicher ist: Auch der Rücktritt von Steve Penney, Präsident von «USA Gymnastics», wird die Welle der Empörung nicht zum Stillstand bringen. Und wohl auch nicht verhindern, dass weitere (Ex-)Turnerinnen auspacken werden.