Über die ungewisse Zukunft will Giulia Steingruber nicht reden. Zu unklar ist die derzeitige Lage im Kunstturnen, zu kritisch ihr Alter – denn bis zum Fernziel Olympia 21 ist sie 27 Jahre alt. Nachdem sie vor einem halben Jahr ihr Comeback gab, war sie parat für den Höhepunkt in Tokio, dem ein Jahr später die Abschieds-EM zuhause in Basel folgen sollte. Doch wegen der Corona-Pandemie ist jetzt alles anders – und die Enttäuschung gross. Umso lieber blickt die St. Gallerin daheim in Gossau, wo sie zwar nicht an Geräten, aber doch täglich an der Fitness trainiert, für BLICK fünf Jahre in die Vergangenheit. Zum 17. April 2015 in Montpellier.
Giulia Steingruber, was ist Ihnen von diesem Tag am meisten in Erinnerung geblieben?
Giulia Steingruber: Es war ein wunderschöner Tag. Einerseits habe ich das Gefühl, er sei eine Ewigkeit her. Und doch ist er mir relativ nah, weil ich mich noch an viele Details erinnern kann. So trug ich beispielsweise mein Lieblings-Gwändli, ein violettes Tenue. Das hatte ich damals neu, hatte es extra für den Mehrkampf ausgewählt und aufbewahrt.
Lassen Sie noch einmal den Wettkampf Revue passieren.
Ich begann dann mit dem Balken, dem Zittergerät schlechthin, das viel Kopfsache ist – ich war deshalb extrem nervös. Wenn man den schafft, ist man drin. Natürlich können noch viele andere Dinge an anderen Geräten passieren, aber es gibt einem ein ganz gutes Gefühl. Ich wusste also: Wenn ich gut durch die Balkenübung komme, gibts einen super Wettkampf. Denn ich hatte eine sehr gute Woche hinter mir, fühlte mich mega gut.
Es gelang. Dann kamen Boden, Sprung und Barren...
Ich war die ganze Zeit vorne dabei – aber ich hörte mit dem Barren auf, der ja nicht gerade mein bestes Gerät ist. Als ich dann auch da fehlerfrei durchkam, durfte ich mit einer Medaille rechnen. Vor Nervosität konnte ich am Schluss des Wettkampfes gar nicht mehr bei der Konkurrenz zuschauen. Die Russin Maria Charenkowa und die Britin Elissa Downie waren nah dran. Als ich am Ende sah, dass es mir zum ersten Platz gelangt hat, war das unbeschreiblich. Ich brachte zunächst keinen Ton heraus! Und im ersten Moment war mir noch gar nicht klar, dass ich das als erste Schweizerin geschafft habe. Es ist noch heute eine mega Ehre, Sportgeschichte geschrieben zu haben.
Wie wurden Sie gefeiert?
Es waren sehr viele Schweizer in Montpellier, denn auch die Jungs hatten ihre Wettkämpfe und turnten eine super EM. Darunter waren natürlich auch meine Eltern. Ich sah sie nach dem Wettkampf, aber gross feiern konnten wir noch nicht, es standen ja noch die Gerätefinals bevor. Aber als die ganze EM dann vorbei war, genossen wir den Abend und stiessen mit den Kollegen und den Athletinnen und Athleten der anderen Länder an.
Im Sprungfinal wurden Sie dann nur Zweite – eine Enttäuschung?
Im ersten Moment dachte ich schon: Schade, hat nicht geklappt. Aber mir gelangen eigentlich zwei super Sprünge, machte also nichts falsch. Die Russin Maria Paseka hatte einen höheren Ausgangswert und stand ihre Sprünge. Am Schluss war ich aber mehr als zufrieden – ich durfte ja auch am Boden und sogar am Barren im Final dabei sein. Eine Enttäuschung war Montpellier bestimmt nicht!
Diese französische Stadt haben Sie sicher ins Herz geschlossen...
Sie wird mir sicher in Erinnerung bleiben, ja. Ich fand die Stadt auch sehr schön, hatte zum Glück Zeit, sie mir anzusehen. Ich hoffe, ich kehre eines Tages mal wieder dorthin zurück – dafür hatte ich bis jetzt leider keine Zeit. Was ich übrigens noch speziell finde: Elena Quirici, die Karate-Kämpferin, holte später auch EM-Gold in Montpellier. Ein cooler Zufall!
Hatten Sie damals ein Ritual, das sie zum Erfolg führte?
Mein damaliger Trainer Zoltan Jordanow gab mir nach dem eineinhalbstündigen Einturnen immer Honig. Den gibts doch meistens an den Frühstücksbuffets im Hotel. So ein kleines Töpfchen nahm er stets für mich mit und ich schüttete es mir direkt in den Mund, bevor ich jeweils die Wettkampfarena betrat. Damit hatte ich eine klein dosierte Zuckerzufuhr, die mir Energie gab. Und dann gings los! Angefangen hatte er damals an der WM 2011 in Tokio, danach wurde es zum Ritual, weil es so gut funktionierte.
Jordanow schmierte Ihnen also Honig um den Mund... Haben Sie noch Kontakt mit ihm?
Gelegentlich, an Geburtstagen, oder wenn er mir zu einem Wettkampf gratuliert.
Sie konnten Ihren Mehrkampf-Titel nicht verteidigen – trauen Sie sich einen solchen nochmals zu?
Die EM in Montpellier war meine letzte Einzel-EM, an der ich den Mehrkampf turnen konnte. Danach war ich entweder am Fuss oder am Knie verletzt. Ausser der Mannschafts-EM in Bern ein Jahr später konnte ich gar nie mehr mitmachen. Ich weiss nicht, wo ich heute stünde. Es gibt viele Junge mit grossem Potenzial, vor allem in Italien und Russland haben sie extrem Gas gegeben. Ein Mehrkampf-Titel wäre wohl extrem schwierig für mich zu erreichen.
Total gewannen Sie an Grossanlässen elf Medaillen – mehr als jede Schweizerin. Was sind Ihre persönlichen Top-Drei der grössten Erfolge?
Für eine Turnerin ist EM-Mehrkampf-Gold schon einer der grössten Momente. Vor allem weil es mir als erste Schweizerin gelang. Wenn ich daran denke, ist das für mich immer noch surreal... Aber ich muss zugeben, dass die Heim-EM in Bern, wo ich am Sprung und am Boden Gold gewann, das noch überschattet. Die Halle in Montpellier war zwar auch pumpvoll, aber die Atmosphäre daheim war dennoch etwas anderes und gab mir enorm viel Energie. Und dann ist da ja noch Olympia-Bronze im Sprung bei Olympia in Rio. Das hat wohl einen noch höheren Stellenwert. Olympia, EM in Bern, EM in Montpellier – das wäre etwa mein Podest der grossen Momente.
Eine letzte Olympia-Chance erhalten Sie nun erst 2021...
Dazu möchte ich mich lieber nicht äussern – das ist mir alles noch etwas zu nah und die weitere Planung ist immer noch sehr kompliziert. Da spreche ich wohl auch für viele andere Sportler, deren Plan völlig über den Haufen geworfen wurde. Wir wissen nicht, wie es mit den Wettkämpfen weitergeht und müssen das erst mit unseren Trainern gut überdenken. Deshalb will ich noch keinerlei Entscheide treffen und lasse das Thema einfach auf mich zukommen.