Ein trüber Sonntagmorgen im April, 10 Uhr, Sporthalle End der Welt, Magglingen. Vor den grossen Fenstern schneit es. Hinter den Scheiben ist es warm, ordentlich aufgereiht sitzen die Kampfrichterinnen in ihren blauen Blazern an einem langen Tisch. Alle Augen sind auf eine junge Frau gerichtet: Livia Maria Chiariello, in drei Wochen 16 Jahre alt, aus Bern. Es steht der zweite von drei Selektions-Wettkämpfen für die EM in der Rhythmischen Gymnastik an.
Chiariello wird diese Selektion dominieren. Das tut sie immer. Seit 2017 hat sie jeden Wettkampf, an dem sie auf Schweizer Boden teilgenommen hat, gewonnen. Bei Events im Ausland war sie in den letzten vier Jahren immer die beste Schweizerin, beim renommierten Nachwuchs-Wettkampf in Corbeil (Fr) landete sie 2020 mitten in der europäischen Spitze. Passiert nichts Verrücktes, wird sie die Schweiz im Juni bei der EM in Varna (Bul) vertreten.«Noch bin ich nicht qualifiziert», sagt Chiariello bescheiden. «Noch läuft der Selektionsprozess.»
Die Star-Trainerin ist begeistert
Doch es geht um viel mehr als um eine EM-Teilnahme: Chiariello ist die grosse Hoffnungsträgerin der Rhythmischen Gymnastik in der Schweiz, einer Sportart, die in den letzten Jahren durch Skandale auf sich aufmerksam machte. Sie kann dabei helfen, dass es in der RG in Zukunft wieder um Anmut, Eleganz und Geschicklichkeit geht und nicht mehr als Erstes die Begriffe Mobbing und Missbrauch fallen.
Dass sie das Zeug dazu hat, steht ausser Frage. Seit ein paar Wochen trainiert die Athletin des RLZ Biel an der Accademia Nemesi nahe Brescia in der Lombardei (It) bei der italienischen Star-Trainerin Stefania Fogliata. Ihre jüngere Schwester Sophia (12) ist auch dabei, ebenso die Grosseltern, die mitgereist sind, damit die Chiariello-Mädchen nicht ganz alleine sind.
Zur Schule geht sie im Moment per Video-Fernunterricht. «Das hat sich im Lockdown letzten Frühling bewährt», sagt die Schülerin des Sport-Gymnasiums Neufeld. «Ich bin sehr dankbar, dass das für mich auch jetzt unkompliziert möglich ist. Das ist eine aussergewöhnliche Chance für mich.» Mehr als 30 Stunden trainiert Chiariello unter den Fittichen von Fogliata pro Woche. Sie ist begeistert. «Ich kann sehr viel lernen und ich hoffe, einen Teil der Methoden und Techniken, die hier angewandt werden, zurück in die Schweiz bringen zu können, um unsere Sportart weiterzuentwickeln.»
«Die Schweiz kann stolz sein, eine solch talentierte Gymnastin zu haben»
Auch Trainerin Fogliata ist voll des Lobes. «Die Schweiz kann stolz sein und sich glücklich schätzen, eine solch talentierte Gymnastin zu haben», sagt sie. «Sie ist sehr ausdrucksstark und hat in den Wochen bei uns immense Fortschritte gemacht.» Fogliata würde die Schweizerin am liebsten für die nächste Saison in der Serie A engagieren. «Das wäre für mich natürlich sehr interessant», sagt Chiariello, ihre Augen strahlen.
Bleibt die Frage: Kann die 15-Jährige in Zukunft auch für die Schweiz starten? Noch hat der Schweizerische Turnverband nicht endgültig entschieden, wie es mit der RG weitergeht. Die gute Nachricht: Bis Ende 2022 ist die Finanzierung der Sportart durch den STV gesichert, auch Einzelstarts bleiben möglich. Was nach einer Selbstverständlichkeit klingt, ist es überhaupt nicht.
Dass Chiariello im Einzel starten kann, ist nach der Politik, die der Verband in den letzten Jahrzehnten fuhr, eine kleine Sensation: Der STV liess bei Elite-Athletinnen nur Gruppen-Starts zu. Das war, so stellte es auch der Pachmann-Bericht fest, der die Missstände in der Rhythmischen Gymnastik in den letzten Jahren untersuchte, mutmasslich sogar rechtswidrig.
Ein Spitzenresultat ist an der EM nicht realistisch
Aber was liegt an der EM im Juni drin? «Das Hauptziel ist, dass die Schweizer Athletinnen erste Erfahrungen an einem internationalen Grossanlass sammeln können», heisst es beim STV. «Ich will zeigen, dass es die Schweiz in der RG überhaupt gibt. Dass wir existieren, dass es hier gute Athletinnen gibt», so Chiariello. Ein Spitzenresultat ist nicht zu erwarten.
Zu kurz ist die Vorbereitungszeit, zu stark die Konkurrenz, die im Schnitt rund sechs Jahre älter ist als Chiariello und im Olympia-Jahr voll im Saft steht. «Wir brauchen mehr Zeit, bessere Infrastruktur, bessere Trainingsbedingungen», sagt Chiariello. «Dann kommen die Ergebnisse auch. Ich habe aber Vertrauen in den STV, dass er uns hier künftig hilft.»
Die Aussichten scheinen an diesem trüben Sonntag nicht schlecht. Chiariellos Ergebnis: 77,401 Punkte, neue persönliche Bestleistung. Natürlich dominiert sie auch diesen Wettkampf, die EM ist ein Stück näher gerückt. Vorher aber geht es zurück in die Lombardei. Trainerin Fogliata wird sich in der Videoanalyse auf die Suche nach Verbesserungen machen. Sie sagt: «Livia hat noch so viel Potential.»