Es ist 23.30 Uhr, Heidi Kaeslin sitzt mit Sohn Fabio in der Bar eines Londoner Hotels. Der Tag war lang, aufreibend und extrem emotional. Vor wenigen Stunden erlebte sie hautnah mit, wie ihre 22-jährige Tochter die Karriere mit der WM-Silber-Medaille im Pferdsprung krönte und Schweizer Sport-Geschichte schrieb. Nun wartet sie geduldig, bis Ari und einige Teamkollegen nach ihrem Delegationsessen zum Anstossen vorbeikommen, bevor die Jungen ihre Party-Tour durch London fortsetzen.
Als Ariella endlich kommt, hat sie nicht viel Zeit für eine familiäre Plauderstunde. Glückwünsche und Bier-Gläser werden ihr von allen Seiten aufgedrängt. Ein Feueralarm verschiebt die Party vorübergehend auf die Strasse. Mama Kaeslin verabschiedet sich.
Das Wichtigste: Sie war da für ihren immer erfolgreicheren Star. In London, wie an allen anderen wichtigen Turn-Events. Als Ratgeberin, Stütze, Mutter, Freundin und Shopping-Partnerin.
«Ich bin in ein warmes, kleines Nest eingebettet, das viele andere Kunstturnerinnen nicht haben», windet Ariella ihrem Umfeld ein Kränzchen. Sie schliesst darin neben der Familie auch ihren Trainer Zoltan Jordanov, Manager Giusep Fry und gute Freunde ein. Vor allem aber verdankt das behütete Vögelchen seine Glanzleistungen seiner sagenhaften psychischen Stärke. Und die wurde ihm schon ins Nest gelegt, kaum dass es geschlüpft war.
Alles begann mit den ersten Guetnacht-Gschichtli. Heidi Kaeslin, eine ausgebildete Mentaltrainin, wendete ihr Fachwissen an, erzählte ihrem etwas hyperaktiven, talentierten Kind Erfolgserlebnisse seines Lieblings-Stoffbäbis – wie es turnte, und wie es seine Ziele erreichte. «Seine Ziele wurden dann Ariellas Ziele», erinnert sich die Mutter, «bis sie diese erfundenen Geschichten irgendwann doof fand. Dann passte ich die Methoden ihrem Alter an, aber stets ohne sie zu überfordern».
Professionalität, grosses Einfühlungsvermögen und eine gute Beziehung sind der Grundstein für die funktionierende Arbeit zwischen Mutter und Tochter – sonst ist sie zum Scheitern verurteilt. Teenager nehmen oft gerade von Mama nichts an. Ist zuviel Ehrgeiz im Spiel, gehts sowieso nicht gut. Selbst das Erfolgs-Duo Molitor-Hingis brauchte einst eine Pause; letztlich kehrte Martina aber wieder zu Mutter Melanie zurück.
Ähnliches im Hause Kaeslin. «Es gab eine Phase, da wollte sich Ariella nur in Magglingen schulen lassen, also liess ich sie in Ruhe. Doch sie kam wieder zurück zu mir», sagt Heidi Kaeslin. Gute Grundanlagen habe Ariella aber bereits mitgebracht: Druck-Resistenz, Flexibilität, Selbstbewusstsein, eine schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, Rückschläge wegzustecken. «Ich musste ihr nur noch den Feinschliff geben.»
Von diesem profitiert die Turn-Queen heute noch. Mama könne ihr aber nichts Neues mehr beibringen, sagt Kaeslin junior keck. Kaeslin senior weiss: «Was Ariella gelernt hat, ist nun Teil ihrer Lebensphilosophie.» Zum Glück nahm Ari einst das Angebot des Pauschenpferd-Helden Donghua Li als Mentaltrainer nicht an! Denn Mama ist halt doch die Beste.