Ariella Kaeslin ist glücklich mit ihrer zweiten Karriere
So ist mein neues Leben als Studentin

Von der Kunstturnerin zur Studentin: Ariella Kaeslin hebt auch nach ihrer Karriere ab. Und zwar in der Hauptstadt. «Bern ist cool», sagt die Luzernerin über ihre neue Wahlheimat.
Publiziert: 02.05.2016 um 09:31 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 17:00 Uhr
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Kaeslins neuer «Arbeitsort»: Die Universität Bern.
Foto: BENJAMIN SOLAND
Cécile Klotzbach (Text) und Benjamin Soland (Fotos)

Treffpunkt Uni Bern, Hauptgebäude. Auf dem Velo biegt Ariella Kaeslin (28) um die Ecke – blond, drahtig, sportlich gekleidet und ­lächelnd wie eh und je. Kommt gerade von der Vor­lesung ­einen Block weiter am ­Institut für Sportwissenschaft (ISPW). Hier studiert sie im zweiten Semester Psychologie und Sportwissenschaft. Die ersten Prüfungen hat sie bereits ­bestanden.

Letztes Jahr hat Kaeslin die Erwachsenen-Matura abgeschlossen. Nun drückt sie wieder die Schulbank. Dabei hätte sie wohl auch ohne Studien-Abschluss beste Berufschancen. «Ja, ich weiss, das ist ein Riesen-Privileg», sagt sie. «Aber das fundierte Hintergrundwissen würde mir fehlen. Wenn ich vernünftig ausgebildet bin, fühle ich mich in jedem Job wohler – sonst ist niemandem gedient.»

«Spagat kriege ich gerade noch hin»

Noch will sich Ariella nicht festlegen, ob sie Sportlehrerin, -Psychologin oder Mentalcoach wie ihre Mutter Heidi werden will. Vor dem Ernst des Lebens lockt der Reiz der un­beschwerten Studentenzeit. Sie kann sich ihren Stundenplan flexibel gestalten und auf bestehende Verpflichtungen und Aktivitäten für Sponsoren abstimmen.

Ausserdem machts ihr Spass. «Wenn andere in den Vorlesungen sitzen, machen wir praktische Übungen im Sport – das ist cool.» Mit ­ihrer guten Grundkonstitution ist «Ari» natürlich die Sportskanone unter den Studenten, deren sportliches Niveau grundsätzlich sehr hoch sei. Im Geräteturnen sticht die ­frühere Europameisterin und Weltmeisterschafts-Zweite im Sprung logischerweise alle Kommilitonen aus. Sie lacht und erzählt: «Der Dozent fragte mich schon, ob ich die Stunde leiten wolle.»

Lieber als Geräteturnen hat sie allerdings alle anderen Sportarten an der Uni. «Dort kann ich noch was lernen. Vor allem bei den Ballspielen, da bin ich echt schlecht. Das Geräteturnen ist nur frustrierend, weil ich nichts mehr so kann wie früher. Den Spagat kriege ich gerade noch hin – aber ­danach tut mir alles weh ...»

Neue Leidenschaft

Etwas tief stapelt Kaeslin wohl schon. Auch im Ausdauersport sei sie nicht sonderlich geübt, sagte sie einst. Heute ist ihre neue Leidenschaft der Triathlon! In Rapperswil und Calgary hat sie bereits zwei Ironman über die Halbdistanz absolviert. «Der Zweite war sogar recht gut: 5:12 Stunden.» Das berechtigt die Hobby-Triathletin sogar zur diesjährigen WM. Augenzwinkernd sagt sie: «Die finden in Australien statt – das kann ich mir fast nicht entgehen lassen.»

Zurück nach Bern. Warum studiert die Luzernerin gerade in der Hauptstadt? «Nur hier wurde der Studiengang in ­dieser Kombination angeboten. Ausserdem ist Bern cool, und die Leute sind super. Ich kenne die Stadt ja schon von Ausflügen während meiner Zeit in Biel. Aber im Herzen bleibe ich stolze Luzernerin!»

Deshalb ist sie auch Pendlerin. Ausser montags fährt Ariella täglich je eine Stunde mit dem Zug hin und zurück. «Ich wohne in Luzern gleich neben dem Bahnhof, und die Uni Bern ist ebenfalls am HB – das ist sehr praktisch.» Und sie ist nicht allein: «Wir sind ein kleines Grüppchen aus Luzern, die alle den gleichen Weg ­machen.» Mit ihnen verbringt Ariella auch oft die Mittagspausen – meist im Restaurant «Grosse Schanze» über den ­Dächern von Bern, das vielen Studenten als Mensa dient.

«Gigantische Giulia»

Gelegentlich wird die dreifache Sportlerin des Jahres ­natürlich erkannt und als «aussergewöhnliche Studentin» entlarvt. «Aber nicht so oft wie in ­Luzern. Da gab es vor allem nach
der Veröffentlichung ­meines Buches einen Schub.»

Mit «Ariella Kaeslin – Leiden im Licht: Die wahre Geschichte einer Turnerin» schrieb sie sich die Schatten von der Seele, welche die harte Realität nach Jahren des Schindens und Verzichts hinterlassen ­hatten. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere fiel die junge Vorzeige-Athletin in ein tiefes Loch. Aus dem ist sie längst wieder gestärkt herausgekrochen. «Es ist verrückt, wie schnell man Negatives vergisst, wenn es einem wieder gut geht», sagt die werdende Fachfrau in Sport und Psychologie – und strahlt.

Sie freut sich, dass sie vom 25. Mai bis 5. Juni den täglichen Weg zur PostFinance-Arena in «ihrer» Studentenstadt aufsuchen und ihre früheren Kolleginnen und Kollegen an der EM unterstützen kann. Sie selbst kam nie in den Genuss eines Grossanlasses vor Heimfans. «Für mich war der Swiss Cup immer das Grösste», erinnert sie sich. Aber an der EM 2009 in Mailand, wo Ariella mit Bronze als erste Schweizerin eine ­Medaille im Mehrkampf holte, seien auch sehr viele Freunde gekommen.

Ihre Rekorde wurden mittlerweile durch Mehrkampf-Europameisterin Giulia Steingruber überholt. «Was Giulia zeigt, ist schlicht gigantisch», sagt die Vorgängerin anerkennend und lobt auch Steingrubers Umfeld, das offenbar ­einen guten Job mache. «Sie kann sich vom EM-Hype beflügeln lassen und den Heimvorteil nutzen. Giulia hat eine ­geniale Lockerheit. Wenn sie die bewahrt, sind ihr keine Grenzen gesetzt.»

Keine Spur von Missgunst bei Ariella – sie ist glücklich mit ihrer zweiten Karriere.

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