Kurz vor Ende des Wettkampfs, als die Zuschauer in der vollen Turnhalle in Romont schon das perfekte Comeback der erfolgreichsten Schweizer Turnerin der Geschichte bejubeln wollten, unterlief Giulia Steingruber doch noch ein Malheur. Beim Abgang am Stufenbarren, dem letzten der vier Geräte, stürzte die Ostschweizerin. Steingruber nahm es mit Humor: «Jetzt weiss ich wenigstens, was ich noch zu tun habe.»
Der Sturz war nur ein kleiner Wermutstropfen an einem fast perfekten Abend. Steingruber zeigte nach 14-monatiger Absenz einen starken Wettkampf und turnte phasenweise so, als wäre sie nie weg gewesen. Zum Auftakt am Schwebebalken kam sie ohne Unsicherheiten durch, auch wenn sie aufgrund der Nervosität die Elemente auf dem zehn Zentimeter breiten Gerät schneller als geplant aneinanderreihte. «Ich war mega nervös - schon die ganze Woche», sagte Steingruber. Je älter sie werde, desto nervöser sei sie. «Ich hoffe, dass ich mit mehr Wettkämpfen wieder lockerer werde.»
Steingruber präsentiert neue Bodenübung
Das Pièce de Résistance war die Übung am Boden, an dem Steingruber ihre neue Choreografie präsentierte. Und erstmals zeigte sie auch wieder den gestreckten Doppelsalto rückwärts, bei dem sie am 7. Juli 2018 in Saint-Etienne folgenschwer gestürzt und sich die Verletzung am linken Knie zugezogen hatte. «Das war eine Herausforderung für mich», sagte Steingruber. «Aber ich habe auf meine Erfahrung vertraut.» Auch wenn sie weiss, dass das Knie hält, hat sie bei den Landungen am Boden gelegentlich noch immer ein mulmiges Gefühl.
Ihre Erfahrung half Steingruber auch beim Sprung, wo sie den Tschussowitina solid, aber noch nicht perfekt zeigte. Am Ende siegte sie mit 53,166 Punkten und mehr als drei Zählern Vorsprung vor Stefanie Siegenthaler und Nina Ferrazzini und sicherte sich ihren achten Meistertitel im Mehrkampf. Titelverteidigerin Ilaria Käslin stürzte am Boden und gab nach zwei von vier Geräten wegen Unwohlsein auf.
«Es hat sich gut angefühlt»
Steingruber sprach nach dem geglückten Comeback von einem «coolen» Gefühl. «Es hat sich gut angefühlt, auch wenn ich noch nicht auf dem Niveau bin, auf dem ich gerne sein würde.» In knapp vier Wochen beginnen die Weltmeisterschaften in Stuttgart, dann geht es für sie um ein Ticket für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio, seit drei Jahren das ganz grosse Fernziel der Ostschweizerin.
Auch Felix Stingelin, Chef Spitzensport des STV, zeigte sich von der Leistung des STV-Aushängeschilds angetan: «Sie hat ein gutes Bild abgegeben, mehr konnte man von ihr nicht erwarten.» Noch habe etwas die Abgeklärtheit gefehlt, diese werde aber sicherlich zurückkehren. Am nächsten Wochenende unterziehen sich Steingruber und ihre Kolleginnen beim Länderkampf gegen die Niederlande einem letzten Formtest, bevor es in Stuttgart ernst gilt.
Packendes Duell Hegi gegen Brägger
Bei den Männern gewann Oliver Hegi den hochklassigen Wettkampf und unterstrich damit seine anhaltende Topfverfassung. Bereits am Eidgenössischen Turnfest Mitte Juni hatte der Aargauer triumphiert, zudem war er in der internen Qualifikation für die WM der Beste. Er habe dreimal in Serie nun ohne Fehler geturnt und eine Konstanz gezeigt, die ihm früher oft gefehlt habe. «Für mein Selbstvertrauen ist das enorm wichtig.»
Hegi und Pablo Brägger lieferten sich ein packendes Duell, bei dem die letzte Übung am Barren die Entscheidung brachte. Am Ende setzte sich Hegi mit knapp einem Zähler Vorsprung durch und holte seinen dritten Mehrkampf-Titel nach 2013 und 2016. Den Kampf um Bronze entschied Benjamin Gischard dank einem perfekten Sprung zum Abschluss zu seinen Gunsten.