«Bereue es nicht, zurückgetreten zu sein»
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Tina Weirather im Interview:«Bereue es nicht, zurückgetreten zu sein»

Tina Weirather blickt zurück
«Skifahren ist ein kranker Sport»

Bis vor kurzem gehörte sie selbst zur Weltspitze, jetzt analysiert die Liechtensteinerin ihre ehemaligen Kolleginnen im SRF. Die Ex-Skirennfahrerin Tina Weirather (31) über die Kehrseite des Sports und die Erfolgsaussichten der Schweizerinnen an der WM.
Publiziert: 06.02.2021 um 15:00 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2021 um 09:19 Uhr
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2017 und 2018 stemmte Tina Weirather (M.) die kleine Kristallkugel für die beste Super-G-Fahrerin der Saison in die Höhe.
Foto: AP
Interview: Alexandra Fitz

Wir treffen die ehemalige Skirennfahrerin im Malbun, dem liechtensteinischen Skigebiet. Ja, da gibt es ein Skigebiet – mit vier Liften und 23 Pistenkilometern. Es regnet. Auf dem kleinen Eisplatz drehen Kinder Runden, während aus dem Radio Musik dudelt. Auf den Hängen rundherum hat Tina Weirather Ski fahren gelernt, mit zweieinhalb Jahren.

BLICK: Es ist bald ein Jahr her, dass Sie zurückgetreten sind. Bereuen Sie es?
Tina Weirather:
Nein, gar nicht. Zum Glück. Es war der richtige Zeitpunkt. Auch wenn in der letzten Saison das Feuer gefehlt hat. Im Kopf wollte ich unbedingt, aber der Körper war nicht mehr bereit, das Risiko einzugehen.

Was ist das für ein Gefühl?
Du brauchst immer mehr Regeneration zwischen den Trainings, die körperlichen Beschwerden werden mehr, und der unbändige Wille fehlt irgendwann. Wenn du schon 41 Podeste hast, dann ist das 42. halt so: Okay, cool. Aber das darf im Leistungssport nicht sein. Du musst jeden Tag fahren, als ob es um dein Leben geht.

Sind Sie danach in ein Loch gefallen?
Ja. Es war eine komplette Leere. Vorher war ich total ausgefüllt mit Träumen und Zielen. Meine Prioritäten waren ganz klar. Jede Entscheidung im Alltag ist so leicht zu treffen. Wenn Kollegen anrufen und fragen, ob ich mit was trinken gehe, war klar, dass ich nicht gehe. Es war auch klar, was ich esse: das, was auf meinem Ernährungsplan steht. Am Anfang war dieses Gefühl von Freiheit mega gut. Und nach ein paar Wochen realisierst du: Fuck, was tue ich? Wann stehe ich auf?

Sie hatten Schlafprobleme.
Schon während meiner Karriere, ja – es hat bis September angehalten, ich war oft ab zwei Uhr wach. Seit drei, vier Monaten ist es viel besser.

Sie haben gleich mit dem nächsten Extremsport angefangen. Mit Gleitschirmfliegen. Sie hätten auch Velo fahren können.
(Lacht.) Das wäre mir zu langweilig. Zu meiner Firmung mit 12 hatte ich einen Tandemflug geschenkt bekommen, ich liebte es. Ich fragte meine Mutter, ob ich den Schein machen darf. Sie redete mir ein, dass da mega viel passiert, und fand: Nein, du fährst jetzt Ski.

Aber mit 120 km/h einen Steilhang hinunterfahren, da kann nichts passieren?
Ja eben! (Lacht.) Aber ich hatte auch keine Zeit dafür. Jetzt hat sich die Möglichkeit ergeben. Es ist wahnsinnig toll, man fliegt vom ersten Tag an alleine.

Seit Oktober sind Sie beim SRF als Ski-Expertin. Was machte Ihnen am meisten Sorgen?
Dass mich die Leute nicht mögen. Dass es Hasskommentare gibt. Und ich dann nicht mehr locker bin und nichts mehr Gescheites sage.

In den Kommentaren heisst es jetzt aber durchweg, Sie seien sympathisch und ein Glücksfall.
Ich hoffte auf einen guten Einstieg. Das hatte ich zum Glück, und jetzt macht es mir super Spass.

Auch wenn Sie nicht vor Ort dabei sind, sondern aus Zürich kommentieren?
Das ist sehr schade. Als ich es erfahren habe, musste ich grad eine Flasche Wein killen. Wegen der Pandemie hat die SRG entschieden, möglichst wenig Personal in Cortina d’Ampezzo einzusetzen. Das muss man akzeptieren.

Wo waren Sie zuletzt vor Ort?
In Crans-Montana. Da bin ich auch mit der Kamera runtergefahren.

Und stoppen Sie heimlich Ihre Zeit?
Nein, ich bin natürlich langsamer, weil ich nicht in die Hocke gehen kann, sonst filme ich den Boden. Einmal habe ich einen richtigen Anfängerfehler gemacht, im Ziel habe ich mich total geärgert. Und alle so: Spinnts dir, du bist Kamerafahrerin, ist doch egal! (Lacht.) Aber ich war letztes Jahr noch im Weltcup und will nicht fahren wie ein Vollhorst.

Ist Ihr Dialekt ein Vorteil?
Nicht grad ein Bonus, aber sagen wir: Thurgauerisch ist weniger beliebt als Liechtensteinerisch, aber Bündnerisch ist beliebter. Ich bin froh, dass ich einen Dialekt habe, der vielleicht speziell ist, dafür leicht zu verstehen.

Sie hatten in Ihrer Karriere vier Kreuzbandrisse, sieben weitere Knieoperationen. Das ist ja brutal. Kann man da überhaupt noch Ski fahren?
Viele sind nach vier Kreuzbandrissen weg. Ich wusste immer, bei mir darf es nie mehr reissen. Es macht dich als Rennfahrerin mental fertig, weil diese Schwachstelle immer bleibt.

Wie verrückt muss man eigentlich sein, um ohne richtigen Schutz mit so einer Geschwindigkeit die Piste runterzubrettern?
Wenn man darüber nachdenkt, ist es völlig gestört. Aber in dem Moment, wo du fährst, denkst du nicht darüber nach.

Aber man sieht doch immer wieder, was alles passieren kann?
Es ist ein kranker Sport. Im aktuellen Damen-Weltcup gab es von September bis heute über 35 Verletzte. Jede Athletin weiss: Ein Drittel pro Jahr fällt im Schnitt wegen einer Verletzung weg. Das ist die hässliche Kehrseite dieses Sports. Damit umzugehen, ist nicht ohne. Ich bin beim Skiverband FIS in einer Arbeitsgruppe, in der es um Verletzungsprävention geht. Man muss etwas tun, sonst geht der Sport kaputt. Ich werde meine Kinder sicher nicht Ski fahren lassen bei diesen Verletzungsraten.

Was haben Sie gemacht, wenn Sie Angst hatten?
Ich habe immer versucht, mich nur auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Jetzt geh ich auf den Lift, dann wärme ich mich auf. Mit dieser Einstellung fuhr ich immer gut, weil ich immer konzentriert war.

Sie haben auch kommentiert, als die Österreicherin Nicole Schmidhofer in Val d'Isère schrecklich stürzte.
Es war so schlimm. Sie ist durchs Netz und war einfach weg. Während der Übertragung habe ich mich zusammengerissen, aber danach bin ich in Tränen ausgebrochen.

Wenn Sie jetzt vor dem Bildschirm zuschauen, denken Sie da manchmal: Wie konnte ich das bloss?
Ja, es gab jetzt grad ein paar Rennen, bei denen ich froh war, im TV-Kabäuschen zu sitzen.

Sie haben einmal mit einem Tabu gebrochen. Letztes Jahr in Garmisch sind Sie nicht gestartet wegen eines unguten Gefühls.
Ich habe 2010 in Cortina ein schlechtes Gefühl gehabt, ich wusste nicht, was es ist. Ich sagte mir: Tu nicht so dumm und fahr. Dann riss ich mir das Kreuzband. Da schwor ich mir auf dem Weg ins Spital, dass ich nie mehr fahre, wenn ich kein gutes Gefühl habe.

Das Gefühl hatten Sie danach zehn Jahre nicht mehr?
Zum Glück! Bis letztes Jahr in Garmisch. Ich sagte meinem Trainer, dass ich nicht fahre. Er sagte: «Okay, was sagen wir? Ist dir schlecht? Knieschmerzen?» Ich wollte aber sagen, wie es ist. Er warnte mich. Aber wenn es nur ein oder zwei Athleten gibt, die sich trauen zu sagen, ich fahre heute nicht, weil ich ein schlechtes Gefühl habe, dann hat es sich schon gelohnt. Es braucht leider mehr Mut, hinten aus dem Starthäuschen rauszugehen, als vorne rauszufahren.

Macht man sich als Skifahrerin über den Klimawandel Gedanken?
Es ist ein Riesenthema. Man erlebt ihn hautnah. Du weisst auch, wenn es so weitergeht, fahren wir in 30 Jahren nicht mehr, weil es keinen Schnee mehr gibt. Gleichzeitig ist es auch ein schwieriges Thema. Wenn du im Weltcup unterwegs bist, fährst du mit dem Auto, jettest mit dem Flugzeug und verfrachtest Tonnen Cargo-Material von einem Kontinent auf den anderen, dann kann man schon nicht Botschafter von einer Umweltorganisation sein. Das wäre heuchlerisch.

Sie sind mit einem ehemaligen SRF-3-Moderator zusammen. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Er wollte für eine Geschichte bei der WM in St. Moritz die Qualifikation schaffen. Die Frage war: Kann einer, der seit 18 Jahren nicht Ski fahren war, die Quali der WM fahren? Er wurde Zweitletzter, mit 42 Sekunden Rückstand. Nur ein 60-Jähriger aus Haiti mit einer Riesenwampe war hinter ihm (lacht). Das habe ich gesehen und fand es sehr lustig. Wir schrieben uns dann und sind zusammen Ski fahren gegangen.

Sie waren Ski fahren? Das war ja sehr mutig von ihm.
(Lacht.) Das sagten alle. Wir hatten es aber sehr lustig. Es hatte so viel Sulz, und er kam fast nicht den Hang runter. Er wusste, dass er mir mit Skifahren nicht imponieren muss.

Lara Gut-Behrami sagte im Dezember in einem Interview, als Frau müsse man sich in diesem Sport immer mehr beweisen.
Es gibt wenig Sportarten, in der Frauen und Männer so gleichgestellt sind wie im Skisport. Wir verdienen gleich viel. Aber auch der Frauenskisport ist von Männern dominiert. Es gibt nur männliche Trainer und männliche Serviceleute. Es ist ein ungünstiger Job für eine Frau. Du arbeitest 180 Tage 24 Stunden, und die anderen Tage bist du komplett daheim. Weder Teilzeit ist möglich, noch kann man es gut mit einem Kind verbinden.

Am Montag geht die Ski-WM los. Ihre Prognose für die Frauen?
Wir haben in jeder Disziplin gute Chancen. Im Super-G ist es mit Lara Gut-Behrami fast eine aufgelegte Sache. Aber auch Michelle Gisin und Corinne Suter sind sehr stark.

Beim Kommentieren sprechen Sie von «wir» – zählen Sie sich selbst zu den Schweizerinnen?
Ich bin für Liechtenstein gefahren, aber im Team war ich mit den Schweizerinnen, und das waren «wir». Mit diesem Natiönli-Denken habe ich Mühe.

Waren Sie als Liechtensteinerin eine Exotin?
Bei den Passkontrollen (lacht). Die sehen den ganzen Tag Pässe, kommt dann einmal im Leben ein Liechtensteiner Pass, sind sie aus dem Häuschen. Oft wird das «ie» vergessen, und in Amerika wissen sie eh nicht, wo es ist.

Hatten Sie durch Ihre Nationalität Vor- oder Nachteile?
Eigentlich nur Vorteile. Wenn ich gut gefahren bin, haben sich die Schweizer mitgefreut: Sie ist eine von uns! Die Österreicher sagten, sie hat noch einen Österreicher als Vater. Die Liechtensteiner freuten sich sowieso. Und wenn ich schlecht gefahren bin, dann musste ich mich nirgends rechtfertigen, es interessierte keinen.

So in die Richtung: Die ist ja eh Liechtensteinerin?
Genau (lacht). Daher hatte ich es super!

Tina Weirather

Tina Weirather, geboren 1989 in Vaduz (FL), weiss schon mit drei Jahren, dass sie Skirennfahrerin werden will. Sie ist die Tochter der ehemaligen Skirennläufer Harti Weirather und Hanni Wenzel. Die Liechtensteinerin trainierte überwiegend mit dem Schweizer Nationalteam. Ihre stärkste Disziplin war der Super-G. Sie fuhr 222 Weltcup-Rennen, erreichte 41 Podestplätze und 9 Weltcup-Siege. 2018 gewann sie eine Bronzemedaille bei den Olympischen Winterspielen. Im März 2020 gab sie ihren Rücktritt bekannt. Seit Oktober letzten Jahres ist sie Expertin und Co-Kommentatorin des SRF bei Live-Übertragungen von Frauenrennen. «Ich habe immer schon alles durchanalysiert. Das Material, jede Einstellung», sagt Weirather. Im Frühling möchte sie die erste Stufe der Trainerausbildung machen. Sie lebt in Liechtenstein.

Die Ex-Skirennfahrerin Tina Weirather (31) aus Liechtenstein
Thomas Meier

Tina Weirather, geboren 1989 in Vaduz (FL), weiss schon mit drei Jahren, dass sie Skirennfahrerin werden will. Sie ist die Tochter der ehemaligen Skirennläufer Harti Weirather und Hanni Wenzel. Die Liechtensteinerin trainierte überwiegend mit dem Schweizer Nationalteam. Ihre stärkste Disziplin war der Super-G. Sie fuhr 222 Weltcup-Rennen, erreichte 41 Podestplätze und 9 Weltcup-Siege. 2018 gewann sie eine Bronzemedaille bei den Olympischen Winterspielen. Im März 2020 gab sie ihren Rücktritt bekannt. Seit Oktober letzten Jahres ist sie Expertin und Co-Kommentatorin des SRF bei Live-Übertragungen von Frauenrennen. «Ich habe immer schon alles durchanalysiert. Das Material, jede Einstellung», sagt Weirather. Im Frühling möchte sie die erste Stufe der Trainerausbildung machen. Sie lebt in Liechtenstein.

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