Vor 30 Jahren: Attentat auf Monica Seles
Als das Tennis seine Unschuld verlor

Der 30. April 1993 hat ihr Leben verändert. An jenem Tag wurde Monica Seles in Hamburg zum Opfer eines Messerangriffs. Warum ein Fotograf mit den exklusiven Bildern sein Leben retten konnte. Und weshalb der 2022 verstorbene Attentäter ein «armseliges Würstchen» war.
Publiziert: 23.04.2023 um 00:36 Uhr
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30. April 1993: Während des Seitenwechsels wird Monica Seles von Günter Parche attackiert.
Foto: Thorsten Baering
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Daniel LeuStv. Sportchef

Am Freitag, dem 30. April 1993, verliert das Tennis seine Unschuld. Im Viertelfinal des Turniers am Hamburger Rothenbaum trifft die topgesetzte Monica Seles auf Magdalena Maleewa. Seles führt 6:4, 4:3, als sie beim Seitenwechsel von Günter Parche mit einem 22 Zentimeter langen Küchenmesser attackiert und in den Rücken gestochen wird.

Der psychisch gestörte Parche wird später erklären, dass er ein grosser Fan von Seles-Widersacherin Steffi Graf sei und er deshalb Seles für einige Wochen ausser Gefecht habe setzen wollen.

Für Seles ist nach diesem traumatischen Tag nichts mehr wie vorher. Sie wird nie mehr nach Deutschland zurückkehren und öffentlich kaum über das Attentat reden. Die Aussagen in dieser Geschichte stammen deshalb aus ihrer Biografie «Immer wieder aufstehen – Mein Spiel zurück ins Leben».

Auch Parche selbst hatte sich ausser vor Gericht nie zur Tat geäussert. Am Freitag wurde bekannt, dass er bereits im vergangenen August in einem Pflegeheim in Ostdeutschland im Alter von 68 Jahren verstorben ist. «In seinem Heim-Aufenthalt war er stets unauffällig, nahm an den Freizeitangeboten teil: Kinonachmittage, Basteln und Zeitung lesen. Dort lebte er in einem Einzelzimmer. Die letzten vier Wochen vor seinem Tod hatte er nur noch im Bett gelegen, bis er schlieslich in einer Nacht friedlich einschlief. Zuvor war er noch palliativ versorgt worden», schrieb Bild.

Blick sprach mit mehreren Menschen, die vor 30 Jahren das Attentat und seine Folgen miterlebt haben. In den Gesprächen wird schnell klar: Die Ereignisse, auch wenn sie mittlerweile weit zurückliegen, lassen sie bis heute nicht mehr los.

Der Augenzeuge Thorsten Baering

«Eigentlich war schon alles entschieden. Monica Seles führte souverän, doch weil das Licht so schön war, blieb ich, um beim Seitenwechsel noch ein paar Fotos von ihr zu machen. Ich sass direkt ihr gegenüber. Plötzlich entdeckte ich etwas hinter ihr. Weil ich ja durch die Kamera schaute, sah ich aber nur einen Ausschnitt. Deshalb verstand ich im ersten Augenblick gar nicht, was soeben passiert war. Damals gab es ja noch keine Digitalkameras. Ich konnte deshalb nicht einfach nachschauen, was ich soeben fotografiert hatte.

Als sich die Ärzte um Seles kümmerten, habe ich irgendwann aufgehört zu fotografieren, weil mir das alles zu nahe ging. Danach bin ich ins Labor gefahren, um die Filme zu entwickeln. Nach gut einer Stunde Warten sah ich, dass ich tatsächlich den Moment, in dem der Attentäter auf sie zustach, fotografiert hatte. Und auch den Moment, in dem der Ordner den Täter festhielt und ihr so möglicherweise das Leben gerettet hat.

An diesen Moment im Labor kann ich mich noch heute gut erinnern. Ich spürte meinen Herzschlag bis in den Hals. Gleichzeitig fragte ich mich, ob auch mich eine Teilschuld trifft. Hätte ich schreien müssen, um Seles zu warnen? Heute weiss ich, dass ich nichts hätte anders machen können, weil alles so schnell ging und ja niemand mit so etwas rechnen konnte.

Weil ich der einzige Fotograf war, der diese Bilder hatte, wollten danach alle etwas von mir. Ich hätte nie gedacht, dass man mit einem Foto so viel Geld verdienen kann. Wie viel ich wirklich erhalten habe, möchte ich für mich behalten, doch die Fotos haben mein Leben gerettet. Denn gut ein Jahr später erhielt ich die Diagnose Hodenkrebs und lag fast ein Jahr lang im Krankenhaus.

Da ich zum damaligen Zeitpunkt erst drei Jahre selbständig war und mir daher noch keinen Geldpuffer anlegen konnte, musste ich mir dank der Seles-Fotos zumindest finanziell keine Sorgen machen. Dies hat garantiert zu meiner gesundheitlichen Genesung beigetragen.»

Der Wahlhamburger Thorsten Baering (61) arbeitet bis heute als freier Fotograf.

Der Turnierarzt Dr. Peter Wind

Foto: IMAGO/Galoppfoto

«Als ich sah, was passiert war, rannte ich sofort auf den Platz. Gleichzeitig rief ich den Sanitätern. Seles hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht und klammerte sich an einen Ordner. Meine grösste Sorge war es, dass der Attentäter ihre Lunge verletzt hatte, denn das wäre lebensbedrohlich gewesen.

Ich hatte zwei Möglichkeiten. Erstens: sie vor 10’000 Leuten zu behandeln. Oder zweitens: sie auf die Liege zu legen und aus der Arena rauszufahren. Ich habe mich dann für die zweite Variante entschieden, da ich relativ schnell feststellte, dass die Verletzungen nicht lebensgefährlich waren und die Lunge nicht betroffen war.

Auf dem Weg ins Unispital Eppendorf war es vor allem meine Aufgabe, sie zu beruhigen. Seles war extrem aufgewühlt und aufgebracht. Zusammenfassend konnte man sagen: Die körperlichen Verletzungen waren minimal, die seelischen aber maximal. Ich übergab dann Seles den Ärzten des Spitals und erklärte den Eltern von Seles, wie es ihrer Tochter ging.

Als ich das Spital wieder verliess, kamen schon die ersten Reporter auf mich zu und hielten mir ihre Mikrofone hin. Überall Polizei-Absperrungen, Bundesgrenzschutz und Journalisten – so etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt. In den paar Minuten, in denen ich drinnen war, brach draussen offenbar die Hölle aus. Erst da wurde mir die ganze Tragweite des Vorfalls so richtig bewusst.»

Dr. Peter Wind (71) war 25 Jahre lang der Turnierarzt am Rothenbaum.

Das Opfer Monica Seles

Foto: KEY

«Ich wurde niedergestochen. Auf dem Platz. Vor 10’000 Zuschauern. Was sich keiner zu fragen getraut, aber alle wissen wollen, ist, ob es wehgetan hat. Ja, es hat sehr wehgetan. Es war ein schlimmerer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können. Während ich im Krankenwagen die Hand meines Bruders umklammerte, bewahrte mich der Schock vor der Erkenntnis, dass meine Welt gerade in Stücke zerbrach.

Der 30. April war ein sonniger Tag. In der Pause vor dem Seitenwechsel führte ich mit 6:4, 4:3. Ich beugte mich vor, um einen Schluck Wasser zu trinken. Ich hatte den Becher kaum am Mund, als ich einen entsetzlichen Schmerz im Rücken spürte. Instinktiv drehte ich meinen Kopf in Richtung des Schmerzes und sah einen Mann mit einer Baseballmütze und einem boshaften Grinsen im Gesicht. Er hatte die Arme über den Kopf erhoben, seine Hände umklammerten ein langes Messer, und er wollte wieder auf mich einstechen. Ich verstand nicht, was da gerade passierte.

Ich stand auf und taumelte ein paar Schritte, bevor ich in den Armen eines Fremden zusammenbrach. Ich hörte Menschen um Hilfe und nach einem Krankenwagen rufen. Zwar stand ich unter Schock, kann mich aber noch genau daran erinnern, dass mir ein Gedanke durch den Kopf schoss: Warum?

Im Krankenhaus wimmelte es von Polizisten und Ärzten. Es herrschte ein einziges Durcheinander. Zwei Tage nach dem Attentat besuchte mich Steffi Graf im Krankenhaus. Wir konnten uns nur ein paar Minuten unterhalten, bevor sie zum Finale musste. Ich war bestürzt. Das Turnier lief weiter, als ob nichts geschehen wäre? Das war eine harte Lektion über das Tennisbusiness. Eigentlich geht es nur ums Geld.

Nachdem Steffi gegangen war, kamen eine Polizistin und ein Polizist mit ein paar Plastiktüten in mein Zimmer. ‹Wir haben Beweisstücke, die Sie identifizieren müssen›, sagt der Polizist. Ich wollte keine Indizien vom Schauplatz sehen. Ich konnte nicht sprechen. Und so starrte ich die Polizistin nur an, als sie eine der Tüten öffnete und mein weissrosa Hemd von Fila herauszog, das ich auf dem Platz getragen hatte. Es war zerfetzt und mit Blutflecken beschmiert. Am liebsten hätte ich mich gleich übergeben.

Die Polizistin öffnete eine zweite Tüte und zog ein langes, gezacktes Messer heraus. Ich kannte dieses Messer. Als ich es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es über meinem Kopf geschwebt. Mein Mund füllte sich mit Spucke, und ich schluckte heftig, um den Brechreiz zu unterdrücken.

Der Polizist zeigte darauf: ‹Ist das das Messer, das der Attentäter benutzt hat?›, fragte er. An der Klinge klebte getrocknetes Blut. Ich nickte rasch und fixierte einen Punkt an der Wand, während die Polizisten mein Hemd und das Messer wieder einpackten und das Zimmer verliessen. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, griff ich nach der Plastikschüssel an meinem Bett und erbrach mich. Ich würgte so lange, bis mir die Bauchmuskeln schmerzten.»

Die US-Amerikanerin Monica Seles (49), die in Jugoslawien zur Welt kam, gewann 9 Grand-Slam-Turniere und war während 178 Wochen die Weltnummer 1.

Die Prozessbeobachterin Gisela Friedrichsen

Foto: imago images/Eventpress

«Ich habe während meiner journalistischen Laufbahn unzählige Prozesse begleitet, doch der gegen den Seles-Attentäter Günter Parche war ein besonderer. Das Medienaufkommen aus der ganzen Welt, es war riesig. Viele stellten ihn als Monster dar, in Wirklichkeit war er aber ein verkümmertes Männlein, ein armseliges Würstchen, das aus der Verblendung heraus etwas Wahnwitziges getan hatte.

Parche war ein Mensch, der nichts Schönes in seinem Leben hatte. Der vor allem Fremden Angst hatte. Der bei seiner Tante lebte und nie eine Frau hatte. Ich kann mich noch gut an eine Aussage erinnern, dass ihm das Essen zuhause am besten schmecke. Schon italienisches Essen war ihm unheimlich. Und vor dem Berufungsprozess in Hamburg übernachtete er lieber freiwillig im Gefängnis als in einem Hotel, weil er das schon wegen seiner Zeit aus der U-Haft kannte.

Für Parche war Steffi Graf quasi die Mutter Gottes. Rein, sauber, ehrlich, schön. Er hat sie angehimmelt. Und das Geld vom Mund abgespart, um sich damals in der DDR einen Videorecorder leisten zu können. Damit nahm er Sendungen mit ihr auf, die er sich dann Tag und Nacht einverleiben konnte. Er hat Graf auch immer wieder Geld geschickt. Als ihr einmal eine Kette geklaut wurde, schickte er ihr 300 D-Mark, damit sie, die Millionärin, sich davon eine neue kaufen konnte.

Als es zum Berufungsprozess kam, machte er vorher alle Bildchen von Graf, die er in seinem Zimmer aufgehängt hatte, von den Wänden, verstaute sie in einem Koffer und stellte diesen auf den Speicher. Er hatte Angst, dass er in den Knast kommt und in der Zeit sein Zimmer renoviert werden könnte und jemand all diese Bildchen wegwerfen würde.

Parche wurde schliesslich für zwei Jahre auf Bewährung verurteilt. Für viele war das ein Skandal. Die ‹Bild› schrieb damals: ‹Saustall Justiz!› Wenn man sich aber die Fakten anschaut, war das Urteil sogar eher zu hoch. Er fügte Seles bloss einen kleinen Schnitt zu, ein Zentimeter-Sticherl. Das war nicht lebensbedrohlich und es war offensichtlich, dass er sie nicht töten wollte. Er wollte einfach, dass Seles für ein paar Wochen ausser Gefecht gesetzt wird, damit seine Steffi wieder die Weltnummer 1 wird.»

Gisela Friedrichsen (77) war während Jahrzehnten die Gerichtsreporterin Deutschlands.

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