Als Kevin Anderson sich nach dem Matchball gegen Pablo Carrena Busta das Ticket in seinen ersten Grand-Slam-Final sichert, klettert er die Tribüne hoch zu seiner Box und lässt sich von seinem Team und der Familie feiern. Als wäre er bereits der Champion.
Dabei ist der erste Südafrikaner seit 52 Jahren in einem US-Open-Final davon noch einen Riesen-Schritt entfernt: Zur Premiere lädt der Spanier Rafael Nadal – 15-facher Major-Sieger, Weltnummer 1, top in Form.
Doch hinter der internen Feier im Team Anderson steckt mehr als verfrühter Jubel. Überheblichkeit ist dem Vorzeige-Athleten, der sich seit vier Jahren im Spielerrat der ATP-Tour engagiert und sich nebenberuflich mit Herzblut der Jugendförderung im Heimatland verschrieben hat, fern. Es ist die geteilte Freude über Andersons Befreiung – nach zweijähriger Gefangenschaft in verletztem Körper und frustrierter Seele.
Obwohl seine Erfolge mit drei ATP-Titeln und einem Viertelfinal als bestem Major-Resultat (2015 US Open) überschaubar sind, hat der Leistungssport dem 2,03-grossen Athleten zugesetzt. Die Hüfte, das Bein, der rechte Ellbogen, eine Knöchel-Operation, die Leiste, das linke Knie, die rechte Schulter – ein Problem jagte das andere.
Er startete als Nummer 80 in die Saison, als 28. der Welt ist er nun der am tiefsten klassierte US-Open-Finalist seitdem es Rankings gibt (1973). Ironie der Geschichte: Punkto Körpergrösse ist der lange Schlacks der Höchste, der je in einem US-Open-Final stand. Gemäss seinem Coach Neville Godwin mit ein Grund, warum Anderson der grosse Erfolg bislang verwehrt blieb.
«Kevin ist ein ruhiger, reservierter Typ. Aber wenn du auf der grossen Bühne stehst, musst du kein Gutmensch, sondern ein Rockstar sein», so Godwin. Doch grosse Männer – das sähe man auch bei John Isner, Ivo Karlovic oder Marin Cilic – seien selten Bulldoggen. «Ihre Grösse ist ihnen fast peinlich, so machen sie sich klein und unscheinbar. Kleine Männer kompensieren das mit frechem Auftreten.»
Also arbeite Anderson fortan mit einem Psychologen am Selbstbewusstsein und -vertrauen. Lernte, gute Punkte laut und frech herauszuschreien, sich zu pushen und die Faust zu ballen. Sein grosses Vorbild dafür: der 15 Tage jüngere Rafael Nadal, den er seit frühester Kindheit kennt.
«Rafa ist meine Inspiration. Er ist einer der grössten Wettkämpfer, stets mental präsent und parat für den nächsten Punkt», sagt er. Er selbst sei immer viel zu kritisch mit sich ins Gericht gegangen. Doch die Zeiten seien vorbei. Anderson macht sich nicht mehr klein. Heute will er ein Riese sein.