Zwei Mütter stossen ihre Kinderwagen durch den Schützenmattpark, geniessen das herrliche, spätherbstliche Wetter. Der leichte Wind weht das farbige Laub von den Bäumen. Nur der Baulärm am St. Galler Ring 225 im Basler Bachletten-Quartier stört die Postkarten-Idylle. Am äussersten Zipfel des Parks hat der TC Old Boys Basel seine Zelte aufgeschlagen. Seit 1927 wird hier bereits Tennis gespielt.
Das Klubhaus hat schon bessere Tage gesehen. Ein weisses Schild mit gelbem Tennisball und schwarzer Aufschrift weist auf den Besitzer hin. Schlicht, schmucklos, bescheiden. Ein Tennis-Klub wie jeder andere in der Region Basel. Doch der TC Old Boys ist nicht irgendein Verein. Es ist die Wiege von Roger Federer, dem erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten. Der Ort, wo die Geschichte eines einzigartigen Talents ihren Anfang hat.
Es seien groteske Szenen, die sich hier in den Sommermonaten zuweilen abspielen, erzählt Madeleine Bärlocher. «Die Japaner sind sehr angetan von Rogi. Einmal kam ein ganzer Reisebus. Die sind dann herumgeschwärmt, haben alles fotografiert und am Ende haben sie das Buffet im Klubrestaurant auch gleich noch leergegessen», erzählt die 74-Jährige. Solche Szenen spielten sich hier immer wieder ab.
Die Anekdoten von Madeleine Bärlocher sind dieser Tage besonders gefragt. Jetzt, wo mit Roger Federer bei den Swiss Indoors Basel der bekannteste Sohn der Old-Boys-Familie in die Region zurückkehrt. Und Bärlocher erzählt sie gerne. In den 80er-Jahren war sie Juniorenverantwortliche bei OB. Sie erinnert sich, wie Lynette Federer, die selber im Frauenteam spielte, zu ihr gekommen sei und sagte: «Du, ich habe einen Sohn. Er ist sieben Jahre alt und würde gerne Tennis spielen. Kann er bei euch mittrainieren?» Er konnte.
Kein Personenkult
Sichtbares hat Federer kaum hinterlassen. Hinter dem Textil der Ballonhalle hängt das Schild «Roger Federer Center Court». Es ist die einzige bemerkenswerte Hommage. Das hat einen Grund: «Rogi will das nicht. Die Federers wollen keinen Personenkult. So gut kenne ich ihn», sagt Bärlocher bestimmt. Plakate und Fotos des sechsfachen Swiss-Indoors-Siegers hängen in der Region Basel in jedem Klubhaus, auch bei den Old Boys.
Bei Federer habe man schnell gesehen, dass er ein grosses Talent sei. Dass er dereinst eine solche Karriere hinlegen würde, hätte aber auch sie nie gedacht. «Hätte ich das gewusst, hätte ich mehr Erinnerungsstücke aufbewahrt. Einen Paradeschlag hatte er nicht. Aber er hatte schon früh ein Händchen für unglaubliche Punkte.» Federer sei fleissig gewesen. Und auch immer sehr anständig. «Ich habe nie eine Reklamation bekommen. Bei mir durfte er kein Racket werfen», sagt sie. Seine Flegeljahre erlebt er erst viel später.
Schwierigkeiten hat ihr Federer aber trotzdem bereitet, erinnert sich Bärlocher. «Mit Rogi war es manchmal schwierig. Ich war für die Einteilung der Trainingsgruppen zuständig und er wollte immer mit seinen Kumpels spielen. Lynette aber fand, die seien nicht gut genug. Also teilte ich ihn um. Als Roger das sah, kam er zu mir und fragte mich, wieso ich das gemacht hätte.» Zu diesem Zeitpunkt ist er gerade einmal 9.
Federer sei ein quirliger Junge gewesen. Neben Tennis spielte er auch noch Handball und Fussball. Zu Hause, so erzählte es einst Lynette Federer, spielte er den Ball ans Garagentor. Stundenlang. Diese Verspieltheit ist bis heute geblieben. «Er probierte immer neue Dinge aus. Wollte Grenzen ausloten. Darum musste ich schmunzeln, als er das mit diesen kurzen Returns probiert hat.»
Ehrgeizig war Federer aber schon immer. «Ich habe ihn im Interclub einmal nur Doppel und nicht Einzel spielen lassen. Da war er richtig wütend auf mich. Und als er einmal verloren hatte, setzte er sich unter den Schiedsrichter-Stuhl und heulte wie ein Schlosshund.»
Für Federer war schon immer klar, dass er einmal Tennis-Profi wird. «Das hat er vom ersten Tag an gesagt.» Dass er es einmal tatsächlich so weit schaffen würde, hätte aber niemand erwartet. «Bei vielen Jungen wird es schwierig, wenn sie in die Pubertät kommen.»
Rebellische Jahre
Ganz ähnlich war es bei Federer. Mit 12 wechselt er ins Leistungszentrum nach Ecublens VD. Die neue Umgebung, die Sprache, das alles bereitet dem sensiblen Jungen Probleme. «Am Anfang ist ihm alles viel zu leicht gefallen. Er ist zu steil nach oben gekommen. Als er dann stagniert hat, wusste er nicht, warum. Das hat ihm gar nicht gepasst. Manchmal muss man eben mehr machen.» Es ist die Zeit, in der Federer auf dem Platz rebelliert. Er flucht. Er wirft Rackets.
Auch wenn er heute in der Region Zürich lebt, Basel bleibt sein Zuhause. Hier leben seine Eltern, seine Schwester, seine Freunde. «Er war schon immer sehr stark mit der Stadt und seiner Familie verbunden. Roger ist sehr sensibel, es passt zu ihm, dass er auf dem Platz auch einmal weint, egal, ob er gewinnt oder verliert.
«Roger ist geblieben, wie er war»
Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, musste ich schon schmunzeln», sagt Bärlocher. In jedem ihrer Worte ist zu spüren, wie stolz sie ist, einen Puzzlestein zu Roger Federers Weltkarriere beigetragen zu haben.
Die Tennis-Anlage der Old Boys war für Federer ein zweites Zuhause. Wenn es regnete, jasste er mit Marco Chiudinelli und seinen anderen Kumpels im Klubhaus. Wie weit dieses Heimatgefühl ging, zeigt auch diese Geschichte: Einmal, nach seinem Sieg beim Junioren-Turnier Orange Bowl, kam er vom Flughafen direkt zur Anlage. «Er lungerte rum und wollte seine Baseball-Mütze nicht ausziehen. Bis ich ihn fragte, wieso er nicht nach Hause gehe. Da sagte er: ‹Ich traue mich nicht, ich habe mir die Haare blondiert.›» Es ist das Jahr 1998, Federer 17 Jahre alt und eigentlich schon längst nicht mehr bei den Old Boys.
Sein Horizont ist in den letzten Jahrzehnten noch grösser geworden. Mittlerweile wohnt er in Wollerau SZ. Er hat einen Zweitwohnsitz in Dubai. Er baute auf der Lenzerheide GR ein Luxus-Chalet. Und in Herrliberg an der Zürcher Goldküste hat er ein knapp 6000 Quadratmeter grosses Stück Bauland erworben. An bester Lage mit Sicht auf den Zürichsee.
Am St. Galler Ring 225 war er letztmals vor 13 Jahren zur Eröffnung des nach ihm benannten Center Courts. Vergessen hat er seine Wurzeln aber nie. «Aber sicher erinnert er sich an mich», sagt Madeleine Bärlocher. Kontakt hat sie zwar nur noch ganz selten, aber sie verpasst kaum ein Spiel. «Am Anfang konnte ich es fast nicht glauben, als ich ihn bei diesen grossen Turnieren gesehen habe. Das war schon speziell. Und ich bin noch heute nervös», erzählt sie.
Am meisten Freude macht ihr aber etwas anderes: «Ich finde es einfach toll, dass er genau so geblieben ist, wie er war.» Dass die Old Boys die Wiege seines Erfolgs sind, sieht man diesem Klub kaum an. Trotzdem rollen im Sommer wieder die Reisebusse an. Mit Chinesen, Japanern, Argentiniern und Spaniern.