«Australia Day» – aber im Melbourne Park steht der Abend des australischen Nationalfeiertags ganz im Zeichen der Schweiz. Rot-weiss, wo man hinsieht, nachdem die Ticketbesitzer der Tagessession mit den Frauen-Halbfinals das Feld geräumt haben.
Unter den Besuchern, die in Rekord-Zahl hier hingepilgert sind (18644) ist auch wieder Schweizer Fan, Andreas Moser – bekannt als Sängerknabe beim letzten Wawrinka-Match. Er nutzt seine neue Popularität aus, richtet eine «Schweizer Kreuz»-Ecke ein, wo er den Fans das eidgenössische Flaggenmotiv auf die Wange sprayt. Die Kunden stehen Schlange...
«Allez Stan»- oder «Go Roger»-Plakate und -Transparente in den Händen, trinken die Tennis-Begeisterten ihr letztes Bier bevors Ernst wird. Trinken sich in Stimmung für diesen Schweizer Halbfinal, der soviel verspricht.
Mit der Freundschaft zwischen Stan und Roger ist es temporär vorbei. Das ist Federer im Gesicht anzusehen, als er im Bauch der Rod Laver Arena eine halbe Minute auf seinen Gegner warten muss. Ungeduldig wie ein Rennpferd, bevor es losgelassen, marschiert er im Gang auf und ab. Dann kommt Stan, die beiden spielen sich ein, los gehts.
Die Partie beginnt alles andere als einseitig. Das Niveau ist wie erwartet hoch, die Unterschiede zwischen den beiden Top-Stars klein. Weltnummer 4 Wawrinka macht einen Winner mehr, Nummer 17 Federer zwei Fehler mehr. Entscheidend aber ist: Federer nutzt einen seiner vier Breakbälle – Wawrinka keinen seiner drei: 7:5.
Im zweiten Satz crasht das erste Racket. Und zwar das von Stan, dem die Busse vom Ausrüster in diesem Moment mehr als egal ist. Als er das Break zum 2:4 kassiert gehen dem Romand die Sicherungen durch – mit brachialer Gewalt bricht er seinen Schläger, der allein durch den Bodenkontakt noch nicht kaputt genug war. Danach gehts schnell – 6:3 für Roger.
Stan braucht ein sogenanntes «Medical Timeout», er verlässt den Court, kommt wenig später mit einbandagiertem Knie zurück. Es ist genau die Stelle am Knie, an der er seinen Schläger zertrümnerte.... Wie behindernd ist diese Verletzung wirklich? Schon in den letzten Matches war er getapt, sprach jedoch von «nichts Gravierendem». Sein Coach Magnus Norman sprach zuvor von einem «kleineren Knie-Problem».
Angeschlagen wirkt ab jetzt wundersamer Weise Roger, nicht Stan. Es will ihm nicht mehr viel gelingen – im ganzen Satz erspielt er sich keinen Breakpunkt, Stan verwertet sogar zwei und bringt den Satz in Windeseile 6:1 ins Trockene.
Der Nervenkrimi beginnt. Auch Federer weiss: Je länger der Match geht, desto gefährlicher wird die «mentale Bestie» Stan. Geich zu Beginn von Satz 4 lässt er sich wieder den Aufschlag abnehmen – breakt aber umgehend zurück. Das Publikum, das schon während der Ballwechsel die Kontenance nicht bewahren kann, reisst es von den Stühlen.
Bis zum 4:4 läuft alles in geordneten Bahnen – dann liegt Federer 0:40 hinten. Zwei Breakbälle wehrt er mit guten Aufschlägen ab, den dritten nutzt Wawrinka mit einem wunderschönen gefühlvollen Passierball aus der Defensive. Holt Roger den Rückstand wieder auf? Nein. Stan the Man serviert wie aus einem Guss und krallt sich den Satz: 6:4.
«Der Match wird sicher nicht sechs Stunden dauern, ich muss versuchen, es vorher abzuschliessen», hatte der Baselbieter gesagt. Nun, hier wird im letzten Durchgang kein Tie-Break gespielt... Federers 5-Satz-Bilanz: 25:20 – Wawrinkas 5-Satz-Bilanz: 25:19. Das letzte Mal, dass Roger einen Match nach 2:0-Führung verlor liegt über fünf Jahre zurück – gegen Novak Djokovic 2011 an den US Open. Wawrinka hat schon sechs Mal einen 0:2-Rückstand zum Sieg gekehrt.
Es soll kein siebtes Mal für den Romand geben. Erstaunlicherweise verliert Wawrinka kurzfristig die Nerven, schenkt Federer mit einem Doppelfehler das Break zum 2:4. Federer, der nach halbjähriger Pause mit vielen Fragezeichen im Kopf an sein erstes Grand Slam-Turnier gereist ist, gewinnt den Nervenkrimi 6:2 im letzten Satz! Und steht im Final der Australian Open, wo er nach seinem 18. Major-Titel greift! Gegen Rafael Nadal? Das wissen wir erst morgen.