Bei Umfragen unter seinen Berufskollegen hatte Sir Andrew Barron Murray (37), wie er mit vollem Namen und Titel heisst, nie die beste Vorhand. Auch nie die beste Rückhand. Nach Ansicht der anderen Profis gab es immer welche, die schneller waren, besser am Netz spielten oder den besseren Aufschlag besassen.
Und trotzdem war Murray 2016 am Ende des Jahres die Nummer 1 der Weltrangliste und damit der beste Tennisspieler der Welt. Wie konnte es sein, dass dieser vermeintlich durchschnittlich begabte Tennis-Genies wie Novak Djokovic, Roger Federer und Rafael Nadal überflügelte – auch wenn es nur für 41 Wochen war?
Er war greifbar mit allem, was er zeigte
Auf der ATP-Tour herrscht ein extremer Wettbewerb. Die Konkurrenz schaut immer zu, versucht, Schwächen zu finden und Stärken zu kopieren. Während Federer scheinbar über den Platz schwebte, Djokovic selbst im Spagat noch die Linien fand, Nadal die Bälle mit einer unglaublichen Gewalt in der Luft tanzen liess, zeigte Murray auf den ersten Blick nichts Aussergewöhnliches – und gewann trotzdem.
Federer, Djokovic und Nadal spielten Tennis von einem anderen Stern. Nicht denkbar, sie nachzuahmen. Aber Murray? Es war greifbar, was er zeigte und wie er spielte. «Was er kann, kann ich auch», werden sich einige gedacht haben. Warum sollten nicht auch sie die Spitze des Tennisolymps erklimmen können?
Ja, Andy Murray liess viele auf der Tour vom grossen Durchbruch träumen. Aber am Ende war er genauso einzigartig wie die drei Überflieger, die sich gegenseitig die Rekorde abjagten – nur viel weniger offensichtlich.
Murray machte sein Ding
Es war ein unglaublicher Biss, der ihn auszeichnete. Ich sah ihm einmal zu, als er sich in einem Gym an einer Maschine abquälte. Ich dachte, er würde gleich kollabieren. Dieser Mann liess im Training keine Minute verstreichen, ohne mit voller Konzentration und Wucht gegen seine Grenzen anzurennen. Kein Wunder, verschob er sie wohl weiter als irgendein anderer Spieler seiner Generation.
Dabei blieb er immer reflektiert und antwortete auf Fragen in Pressekonferenzen und Platzinterviews nicht mit den auf der Tour üblichen Floskeln, sondern häufig pointiert mit knochentrockenem, britischem Humor. Murray machte, wie man so schön sagt, sein Ding.
Auch bei der Wahl seines Teams ging er teilweise neue Wege. Von 2014 bis 2016 hatte er als Erster – und bis heute Einziger – mit der Französin Amélie Mauresmo (45) eine Frau als verantwortlichen Coach in seiner Box. Die Szene staunte, und es hagelte Kritik. Aber die beiden liessen sich nicht beirren und hatten Erfolg.
Sir Andy Barron Murray kam nie rüber wie ein Star, schon eher wie der Sohn des Nachbarn, der in die Welt hinauszieht, um sie aufzumischen. Er tat dies auf unnachahmliche Art und Weise.