Günthardt über neugegründete Spielervereinigung
«Ich weiss nicht, um was es Djokovic geht»

Heinz Günthardt kommentiert die US Open aus dem Zürcher TV-Studio – aber er spürt sie noch nicht.
Publiziert: 06.09.2020 um 13:36 Uhr
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Aktualisiert: 06.09.2020 um 13:37 Uhr
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Heinz Günthardt kommentiert auf SRF die US Open. Doch dieses Jahr ist einiges anders.
Foto: Urs Lindt/freshfocus
Cécile Klotzbach

Heinz Günthardt, haben Sie jetzt, da alle drei Schweizerinnen ausgeschieden sind, noch viel zu tun?
Heinz Günthardt:
Ja, SRF hat entschieden, trotzdem jeden Tag zu senden.

Bedeutet das konkret vierzehn Nachtschichten in Folge im Zürcher Leutschenbach?
Nein, bis jetzt zeigen wir ja nur gewisse Matches live, da muss es nicht immer so spät werden. Und ich weiss noch nicht genau, was wir in der zweiten Woche abdecken. Aber Anfang der Woche waren es schon Nachtschichten – Steffi Vögele spielte ja erst morgens um drei. Aber es ist machbar, völlig erträglich für mich.

Dann sind Sie eine Nachteule?
Nicht unbedingt, ich bin sicher nicht der Typ, der bis morgens um elf Uhr schlafen kann. Aber wenn die Schweizer spielen, bleibt das Adrenalin beim Kommentieren am Fernsehen schon hoch. Da habe ich nicht das Gefühl, ich würde lieber schlafen gehen. Und das wird auch kein Problem sein, wenn es bei den Viertelfinals, Halbfinals und im Final um alles oder nichts geht. Ausserdem habe ich ja noch Stefan Bürer neben mir und bin nicht allein.

Trinken Sie bei der Arbeit ausnahmsweise mal zusammen ein Bier?
(Lacht.) Das schon nicht, ein Kaffee hilft mitten in der Nacht mehr.

Macht es Ihnen trotz allem Spass?
Es ist eine Herausforderung, denn die Situation ist Neuland für mich. Ich habe noch nie einen Grand Slam vor leeren Rängen kommentiert. Ob es mir Freude macht, hat auch damit zu tun, wie ein Match verläuft. Ob er eng ist, sich spannend entwickelt oder qualitativ hochstehend ist. Natürlich ist es einfacher, emotional dabei zu sein, wenn du Schweizer kommentierst. Und wenn eine Stimmung vor Ort zu spüren ist.

Am Fernsehen kommt es oft etwas stimmungslos daher.
Das stimmt, es ist nicht einfach, das Gespür aus der Ferne zu be­kommen. Bis jetzt habe auch ich es noch nicht wirklich entwickelt, aber vielleicht kommt das in der zweiten Woche ja noch. Die Spiele wirken ein wenig wie Trainingsmatches. Nur schon der Ton ist so anders, wenn niemand im Stadion ist. Man hört Dinge, die man sonst nie hört – beispielsweise Züge, die Long Island Railroad. Früher machten immer nur die Flieger vom Flughafen La Guardia Lärm. Die Geräuschkulisse gibt ein ganz neues Gefühl – als wärst du an dem Turnier noch nie gewesen.

Was vermissen Sie bei der Arbeit im TV-Studio am meisten?
Die Interaktion mit den Leuten vor Ort. Eigentlich habe ich das Gefühl, ich sei am Puls. Ich kenne ja fast jeden in der Szene, treffe immer Trainer, Spieler oder auch andere Journalisten, wechsle Worte, tausche Informationen aus. Das gibt mir ein ganz anderes Gefühl beim Kommentieren.

Rufen Sie nun die Leute vor Ort an oder schreiben SMS?
Nein, das hat bis jetzt nicht stattgefunden. Die Geschichten, die wir gerne am Fernsehen erzählen, geschehen vor Ort und werden nicht durch offizielle Mitteilungen verbreitet. Wie oft laufe ich jemandem über den Weg, der mir spontan eine nette Randgeschichte erzählt! Diese Komponente fällt nun völlig weg. Man ist nicht mehr mitten im Kuchen, in Manhattan, unter Profis oder Touristen. Es gibt diese Bubble, aber wir sind nicht drin. Ich tauche höchstens mal für ein paar Stunden ein. Aber sobald ich aus dem Studio laufe, ist das US-Open-Feeling gleich null. Am Kiosk interessiert sich niemand mehr dafür – in New York redet jeder darüber.

Was haben Sie aus dieser Bubble gehört?
Nicht viel, nur was offiziell durch­sickert, die Geschichte mit Benoit Paires positivem Corona-Test, oder die Klagen der Spieler, die sich gefangen fühlen. Diese Situation kann sicher nicht die Zukunft sein. Die Teilnehmer können nicht von einer Quarantäne zur nächsten Quarantäne wechseln.

Aber es wird vorerst genau so in Rom, Paris, etc. weitergehen.
Kurzfristig schon, es ist eine gute Sache, dass man versucht, eine Lösung zu finden. Aber längerfristig ist das kein Lebensstil, der in einem solchen Beruf herrschen kann. Hotelzimmer oder Trainingsplatz, das kann auf Dauer auch für die Leistung nicht gut sein. Kurzfristig ist das okay, aber ich hoffe, es kommt bald wieder anders.

Merken Sie den Leistungen der Spieler die spezielle Situation an?
Nein, aber das ist bis jetzt auch schwierig zu beurteilen. Vor Ort wäre das vielleicht anders, aber aus der Ferne ist das kaum zu spüren. In der zweiten Woche, wenns dann wirklich um den Titel geht, wird das schon interessanter. Die Nerven­belastung ist immer noch ähnlich, denke ich. Es ist einfach eine Komponente weniger: Du bist müde, machst aber einen guten Punkt, dann peitscht dich der Jubel der Fans auf – das gibt es jetzt nicht. Aber es kann auch sein, dass gewisse Spieler ohne Zuschauer besser spielen. Machen sie einen blöden Fehler, stöhnen nicht wie sonst zwanzigtausend Zuschauer auf und verstärken damit das Dilemma noch.

Novak Djokovic scheint gut zurechtzukommen.
Er gehört zu den Leuten, die das können, ja. Und vielleicht hätte auch Amélie Mauresmo Paris gewonnen ohne Zuschauer, wer weiss.

Können Sie Djokovics Gründung einer neuen Spielervereinigung nachvollziehen?
Im Moment weiss ich gar nicht genau, worum es ihm geht. Die ATP ist ja auch eine Spielervereinigung und er war der Präsident, also in einer Machtposition innerhalb der ATP. Deshalb konnte er ja auch die Ab­setzung des früheren CEO bewirken. Also, was ist sein Problem? Vielleicht würde ich es verstehen, wenn er es mir erklärt.

Ist Djokovic der klare Favorit?
Logisch, er ist die Eins. Aber da gibt es ja auch noch den Rattenschwanz derer, die schon ein paarmal nah dran waren – Thiem, Zverev oder Raonic, der sich langsam in Form gespielt hat. Ich kann mir vorstellen, dass sich ein gutes Dutzend Chancen ausrechnet, den Titel zu holen. Und bei den Frauen könnte man wohl eine Liste von 30 Mitfavoritinnen machen – und die Chance wäre gross, dass der Name der Siegerin nicht darauf ist.

Wäre Belinda Bencic auch auf Ihrer Liste gestanden?
Ja, aber sie ist jung und wird noch viele Chancen bekommen. Ich kann sie wie auch jeden anderen ver­stehen, der nicht an die US Open wollte.

Finden Sie es richtig, dass das New Yorker Turnier trotz Corona durchgeboxt wurde?
Auf jeden Fall, keine Frage! Für die vielen schlechter Klassierten ist das enorm wichtig. Und ich bin auch der Meinung, dass der Titel genau gleich viel wert ist wie mit Zuschauern. Die Leistung, die der Sieger bringen muss, ist ja immer noch dieselbe. Ich glaube nur nicht, dass es ein Modell für die Zukunft ist. Ein Zuschauer besucht Sportanlässe oft nicht nur wegen des Sports, sondern auch wegen der Stimmung vor Ort.

Wird für Sie auch Roland Garros ein Erlebnis aus dem TV-Studio?
Stand heute, ja. Nun üben wir mal weiter, was man aus solch einem Turnier alles machen kann.

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