W wie Wunderknabe
Nicht nur Roger Federers Liebesgeschichte, auch seine Erfolgsstory beginnt 1998 in Wimbledon. Als 16-jähriger Junior betritt er den legendären «All England Lawn Tennis and Crocket Club» im Südwesten Londons zum ersten Mal. Er ist unendlich beeindruckt. Als hochtalentierter, filzballverrückter Junge kannte er die Wiege des Tennis nur vom Fernseher. Jeden Sommer fieberte er mit seinen Helden. Fragte sich, wie es sich auf einer Wiese, die er nur vom Federball im elterlichen Garten oder vom Fussball kannte, wohl Tennis spielte.
Schon beim dritten Turnier nach Queens und Roehampton weiss er es. Geschmeidig wie seine natürlichen Bewegungen auf dem Platz fliegt das Jungtalent auf dem Rasen von Wimbledon ohne Satzverlust durchs Tableau. Im Final gegen den Georgier Irakli Labadze gewinnt er sein erstes Grand-Slam-Juniorenturnier. Es geschieht auf Court 2, dem sogenannten «Friedhof der Champions», wo schon viele Stars auf kleiner, aber feiner Bühne ins Gras bissen. Für den Schweizer Wunderknaben mit dem Pferdeschwanz bedeutet Court 2 das Gegenteil: die Geburtsstätte eines Champions.
I wie Idole
Champs, das waren für den jungen Baselbieter Boris Becker, Stefan Edberg und Pete Sampras. Sie alle inspirierten ihn mit glorreichen Erfolgen in Wimbledon: der 17-jährige Becker als jüngster Sieger aller Zeiten. Edberg als dessen zweifacher Finalbezwinger und grösster Rivale. Und natürlich Sampras, der sieben seiner 14 Grand-Slam-Titel an der Church Road holte, als Rasengott schlechthin.
Nicht im Traum hätte Roger als angehender Tennis-Profi gedacht, dass er schon 2001 in den Achtelfinals bei seiner Centre-Court-Premiere in Wimbledon auf eben diesen treffen würde. Und noch viel weniger, dass er «Pistol Pete», wie der Amerikaner wegen seines erbarmungslosen Serve- und Volleyspiels genannt wurde, nach 31 siegreichen Wimbledon-Matches in Serie entwaffnen würde. Nach fünf Sätzen steht der 19-jährige Schweizer als Sieger fest. Zum ersten Mal lässt er sich jubelnd und weinend, überwältigt und erschöpft zugleich mit den Knien auf den heiligen Rasen fallen.
M wie Magie
Dieser erste Kniefall in der Kathedrale des Tennis macht Federer auf einen Schlag weltberühmt. Die Szene spricht vom Star aus Switzerland, beschenkt ihn mit Vorschuss-Lorbeeren, die sich vorerst als Bürde erweisen. Der Durchbruch auf Major-Ebene lässt auf sich warten. Nach zwei Startpleiten in Roland Garros (Hicham Arazi 2002, Luis Horna 2003) und einem Erstrunden-Out in Wimbledon 2002 (Mario Ancic) muss sich die Weltnummer 5 gar anhören, sie habe den Status als Top-Spieler noch nicht verdient. Am 6. Juli 2003 schlägt die Stunde der Magie mit einem Dreisatz-Sieg über Mark Philippoussis (Aus). Wie Roger nach einem Hexenschuss, der ihn im Achtelfinal beinahe zur Aufgabe zwang, den ersten Grand-Slam-Titel holt, grenzt an ein Wunder.
Als behielte ein Zaubertrank seine Wirkung, umarmt der Tennis-Magier auch in den vier Folgejahren seine liebste Trophäe – zweimal nach Siegen über US-Star Andy Roddick, zweimal gegen Sandkönig Rafael Nadal, der jedes Jahr stärker in seine Domäne eindringt. Und die magische Serie 2008 in einem epischen Fünfsatz-Drama im Dämmerlicht zum Reissen bringt. Doch schon 12 Monate später – abermals gegen Roddick – erobert sich Federer die Krone zurück. Und auch trotz Rückschlägen in den beiden nächsten Saisons verfliegt der Wimbledon-Zauber nicht. Der verflixte siebte Titel wird endlich Tatsache, als Kritiker schon Federers Untergang beschwören: 2012 verhindert er gegen Andy Murray den ersten britischen Wimbledon-Triumph seit 76 Jahren.
Ein zauberhafter Tag: Er zieht mit Sampras’ sieben Siegen gleich. Wird nach mehr als zwei Jahren wieder die Nummer 1, womit er sein Vorbild überholt (286). Und erlebt erstmals als Vater, wie seine dreijährigen Zwillingstöchter Myla und Charlene auf der Tribüne seinen Triumphzug mitfeiern.
B wie Belag
Die Bezeichnung Rasenkönig kann Federer seit seinem 7. Sieg niemand mehr nehmen. Er habe sich schon als Juniorensieger ins Rasentennis verliebt, erklärt Federer diese Woche in einem Interview mit der «Basler Zeitung». «Ich hatte immer das Gefühl, das muss etwas Gediegenes sein – weil nur die Besten je auf Rasen spielen dürfen.» Heute ist er selbst der Beste überhaupt. Mit dem neunten Turniersieg in Halle erhöht er seine Rekordzahl an Gras-Titeln auf unangetastete 16.
Das Spiel auf dem Lieblingsbelag ist perfekt auf Federer zugeschnitten: Der Ball springt flach und schnell ab, lädt zu Risiko und Improvisation ein. Seine ausgefeilte Schritt- und effiziente Servicetechnik werden belohnt. Wimbledon steht indes für die Perfektion des Rasens. Jeder Grashalm ist aus einer Mischung erlesenster Samensorten gewachsen und von den besten Greenkeepern der Welt akkurat auf acht Millimeter zugeschnitten.
L wie Liebe
Nicht allein wegen der grossen Erfolge auf diesem geliebten Flecken Erde beginnt Federers Herz schon beim Landeanflug in London zu klopfen. Im idyllischen Londoner Vorort, wo er mit seiner Familie, den engsten Freunden und Beratern eine Villa bewohnt, fühlt er sich wohl wie zu Hause. Wimbledon strahlt Nestwärme aus, wie sie nur eine grosse Liebe geben kann. Wie Mirka, die seit 17 Jahren die Frau an seiner Seite und eine wichtige Zutat in Rogers Erfolgsrezept ist.
«Es kribbelt schon im Bauch», sagt er jüngst, wie ein Verliebter voller Vorfreude aufs nächste Date. Rogers Liebe zu diesem Turnier verdanken wir seine lange Karriere. Mit der Aussicht auf sein «Wohnzimmer» tröstete er sich über manch schmerzhafte Niederlage in Roland Garros hinweg. Für Wimbledon verzichtete er in diesem Jahr gar vollends auf die Sandsaison. Im Spätherbst seiner Karriere hat der Maestro nur noch
erlesene Ziele im Visier. Opfert Verzichtbares für das, was er am meisten liebt.
E wie Ehrfurcht
Dazu gehören die Traditionen, die Federer in Wimbledon schätzt und befolgt. Er verehrt den eleganten Klub mit seinen uniformierten, höflichen Stewards, respektiert die strengen Turnierregeln und bewundert die bis hin zum Blumenschmuck grün-violett gehaltene Aussenanlage.
Noch heute überkommt ihn Gänsehaut, wenn er ehrfürchtig durch die mit Fotos früherer Tennispioniere geschmückten Gänge des Clubhauses wandelt. An den Wänden hängt auch sein eigenes Konterfei in zahlreichen Variationen. Das hingegen versetzt seine Gegner in Ehrfurcht, wenn sie zum Duell mit der Schweizer Legende auf den Centre Court schreiten. Es gab Jahre, da flösste King Roger nur schon durch seine Kleidung Respekt ein. Wie alle Wimbledon-Teilnehmer seit 140 Jahren trägt er Weiss. Doch statt der Trainingsjacke trug er ein Sakko. Mit goldenen Initialen auf Tennistasche und Schuhen.
D wie Denkmal
Federers Wimbledon-Schuhwerk ist mit der Zahl seiner Titel bestickt. Sie spiegeln nur einige der Grosstaten, mit denen sich der Meister hier verewigt hat. So nahm Federer 2008 mit Nadal am längsten Wimbledon-Final teil (4:48 Stunden). 2009 spielte er mit Roddick die meisten Games in einem Grand-Slam-Final (77) sowie die meisten in einem Schlusssatz (30). Dazu schlug er mehr Asse in einem Major-Final (50) als jeder andere. Ab morgen setzt sich der im August 36-Jährige ein neues Denkmal und kann weitere Jubiläen feiern: Er bestreitet seinen 70. Grand Slam, übernimmt damit die Spitze vor Fabrice Santoro (Fr). Übersteht er drei Runden, wäre sein 100. Sieg in Wimbledon in Stein gemeisselt. Dabei braucht er noch 6 Asse, bis er als dritter Spieler auf der ATP-Tour hinter den Aufschlag-Giganten Ivo Karlovic und Goran Ivanisevic die 10'000er-Marke knackt.
O wie Ovationen
Die Liste seiner Rekorde füllt mehrere Seiten der Tennis-Geschichtsbücher. Und nirgends auf der Welt wird dies mehr gewürdigt als in Wimbledon. Die tennisaffinen Briten, die für ein Wimbledon-Match tage- und nächtelang vor den Toren campieren, verehren den gesitteten Ausnahmespieler derart, dass der einheimische Champion Andy Murray zuweilen vor Neid erblasst. Federer erntet schon vor den ersten Ballwechseln Standing Ovations. Jeder seiner Schritte und Schläge wird durch bewunderndes Raunen, entsetztes Stöhnen oder frenetischen Applaus begleitet.
Gewinnt der Held, ist das gesamte Stadion aus dem Häuschen – «Royal Box» inklusive. Zu seinen Edelfans gehörten hier schon Queen Elizabeth, die Erbin der Schirmherrschaft, Herzogin Kate sowie deren Gatte Prinz William, Schwester Pippa Middleton oder diverse Premierminister.
N wie Neunzehn
Federer ist Wimbledon, Wimbledon ist Federer – in diesem Jahrtausend ganz sicher. Vielleicht für die Ewigkeit, sollte der neuerliche Favorit dieses Jahr beim 19. Auftritt den 19. Grand-Slam-Sieg, seinen 8. in Wimbledon vollenden. Der alleinige Rekord wäre einmalig – ein Wunder, magisch und historisch. Der ultimative, beinahe orgiastische Höhepunkt in der Liebesgeschichte zwischen Federer und Wimbledon.