Ein erstes Psychospielchen oder schlicht der Übersichtsverlust angesichts seiner reich dekorierten Karriere? Novak Djokovic (35) hat unter der Woche nach seinem Achtelfinal-Sieg über Alex de Minaur mit einer schräg-amüsanten Pressekonferenz für Aufsehen gesorgt. Angesprochen darauf, dass er der einzige verbliebene Grand-Slam-Sieger im Teilnehmerfeld sei, sah sich Djokovic geschmeichelt – und setzte zur Lobrede für die noch unerfahrenere Konkurrenz an. Stefanos Tsitsipas (24) etwa, auf den sei sicher zu achten: «Er hat schon einige Male die Endphase eines Grand Slams gespielt. Doch ich glaube, er hat noch nie einen Final gespielt, liege ich falsch?»
Dass es Tsitsipas war, der ihm 2021 im French-Open-Endspiel gegenüberstand und gar mit 2:0-Sätzen vorne lag, hatte er – absichtlich oder nicht – vergessen.
Tsitsipas’ Konter folgte unmittelbar nach dem Final-Einzug, als er mit der Djokovic-Erinnerungslücke konfrontiert wurde. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er staubtrocken: «Ich kann mich auch nicht erinnern.»
Nun, in seinem Fall ist er auch gut beraten, sich nicht allzu fest im Schmerz von damals zu suhlen. Wobei: Eine Portion Extramotivation dürfte der Grieche aus der bitteren Fünf-Satz-Pleite von Paris ziehen – er hat jetzt endlich die Chance, diese Rechnung mit Djokovic zu begleichen.
ATP-Thron winkt
In Melbourne greift Tsitsipas nach seinem ersten Grand-Slam-Titel und damit nach einem langersehnten Meilenstein seiner Karriere. Er tut dies allerdings als klarer Aussenseiter gegen einen Djokovic in ausgezeichneter Verfassung, der sich weder von Oberschenkelproblemen noch vom Fahnen-Eklat um seinen Vater Srdjan vom Kurs abbringen liess. Djokovic steht in Down Under zum zehnten Mal im Final. All seine bisherigen Endspiele in Melbourne vermochte der Turnier-Rekordhalter für sich zu entscheiden.
Der Australian-Open-Final am Sonntagmorgen wird in jedem Fall einer für die Geschichtsbücher. Gibts den Premierentitel für Tsitsipas, der die neue, aufkommende Generation verkörpert? Oder zieht Djokovic in Melbourne durch – und damit mit Grand-Slam-Rekordmann Rafael Nadal gleich? Beide stünden dann bei 22 Major-Titeln.
Und als i-Tüpfelchen gibts an diesem Sonntag gar noch den Tennis-Thron. Wer den Final gewinnt, ist die neue Weltnummer eins. Bei diesen Aussichten und diesem Druck kann es wohl schon mal vorkommen, dass man andere Dinge auf dem Weg dahin ausblendet.