Heute wäre der wichtigste Tag im Jahr des Neil Stubley. Er ist der «Greenkeeper» des «All England Lawn Tennis and Croquet Club», also der Chef über den Heiligen Rasen von Wimbledon. Morgens um 6 Uhr hätte er schon die Gras-Qualität gecheckt, mit seiner 30-köpfigen «Groundsmen»-Crew die Rasen der Samensorte «Lolium perenne» auf sämtlichen 38 Courts mit dem Fein-Mäher auf exakt 8mm getrimmt, dabei ein wachsames Auge kontinuierlich auf den Wetterbericht gehalten. Er wäre nervös. Und er wäre sehr stolz, sein in zehn Monaten gewachsenes Kunstwerk endlich der ganzen Welt zeigen zu dürfen.
Die Plätze wären parat, nach dem herrlichen Frühlings- und Frühsommer-Wetter in Grossbritannien sogar in einem Idealzustand wie selten. «Es ist so schade», sagt Stubley, der natürlich rasenmäht, als wäre alles normal. «Dass meine Leute und ich unseren Schweiss und Blut nicht präsentieren können, schmerzt am meisten.» Als klar war, dass die Corona-Krise die Wimbledon-Championships vereiteln würde, habe er sich deshalb zunächst «sehr leer» gefühlt. Statt den Rasenflüsterer auf dem feudalen Clubgelände zu geben, sitzt er heute in seinem Büro und lässt interessierte Medienvertreter an seinem Was-wäre-wenn-Traum teilhaben.
Und statt Roger Federer, Novak Djokovic, Rafael Nadal und Co rennen seit Mitte Mai ein paar Clubmitglieder des ehrwürdigen Londoner Vereins über seine Spielwiese – nur vier oder fünf der 19 Showcourts sind abwechselnd jeweils gleichzeitig bespielbar, manchmal auch der Centre Court. «Immerhin haben wir die Arbeit nicht umsonst gemacht», so Stubley, der auch sonst nicht jammern will. Betrachte man das Gesamtbild in dieser schwierigen, surrealen Zeit, dürfe man die Enttäuschung über das abgesagte Turnier nicht überbewerten. «Es gibt keine Championships. Aber auch der Rest der Welt ist derzeit nicht normal – das macht es einfacher zu ertragen.»
Grosse Leere nach Siegerehre
Stubley spricht leidenschaftlich, geradezu liebevoll von seinem Grün. Ein gelungener Trainingsplatz ist für ihn genauso wertvoll wie der Centre Court. «Ich habe 38 Kinder, wenn Sie mich also fragen, welches ich am liebsten habe, kann ich nicht antworten. Sie sind alle meine Babies!» Der Brite schätzt es, wenn sich Spieler für die Enstehtung oder die Begebenheit seines grünen Wunders interessieren. Aber eigentlich ist es ihm egal, wer darauf spielt. «Hauptsache die Plätze sind Gastgeber guter Matches.» Als Andy Murray 2013 für den ersten britischen Wimbledon-Sieg seit 77 Jahren sorgte, sei das denn auch der verrückteste Momente seiner Karriere gewesen. «Mir standen die Nackenhaare zu Berge», sagt Stubley lächelnd. «Aber beim Matchball schaute ich nicht in Andys Gesicht, sondern auf seine Füsse in meinem Gras.»
Nach der Siegerehrung dann die grosse Leere. «Dieses Gefühl ist vergleichbar mit jetzt», so der Greenkeeper. «Auf der Anlage ist es ruhig, verlassen – wie nach einem Konzert, wenn der Saal geräumt ist.» Aber auf der Insel nimmt man die Geschehnisse mit typisch britischem Humor. Draussen vor den Toren an der Church Road, wo diese Woche hunderte, ja tausende von Fans Schlange stehen und ihre Zelte aufbauen würden, hängt ein Schild. Darauf steht: «THE QUEUE – Sie sind 361 Tage zu früh».
Für Neil Stubley gilt das nicht. Schon bald – Ende August – widmet er sich wieder der Renovation, Forschung und Besamung für die Saison 2021. «Der heilige Rasen wird weniger abgenutzt, die Pflanzen nicht so gestresst sein wie andere Jahre – ein kleiner Lichtblick. Und 2021, wenn die Championships hoffentlich wieder stattfinden, wird alles so sein, wie immer.»