30 Jahre ist es her, da schlug die grosse Stunde des kleinen Mädchens aus Novi Sad, einer Stadt im ehemaligen Jugoslawien (heute Serbien).
Wir schreiben den 9. Juni 1990, als Monica Seles im zarten Alter von nur 16 Jahren und 189 Tagen im Final der French Open in Paris die grosse Dominatorin Steffi Graf in zwei Sätzen schlägt und somit die jüngste Grand-Slam-Gewinnerin aller Zeiten wird.
Dies, nachdem sie im Viertelfinal die Schweizerin Manuela Maleeva-Fragnière in drei Sätzen ausschaltete. Erst Martina Hingis luchste Seles 1997 diesen Rekord ab: Die Schweizerin war bei ihrem Australien-Sieg 16 Jahre und 117 Tage jung.
Seles, die das Spiel von ihrem Vater Karolj auf einem Parkplatz mit einem selbst aufgehängten Netz erlernte und später in der berühmten Akademie von Nick Bollettieri (88) in den USA verfeinerte, greift in jenem Moment 1990 nach den Tennissternen. In einem seltenen Interview mit der britischen «Daily Mail» erzählt sie nun von den Leiden, die ihr dieser Erfolgsmoment bescherte.
«Dein Leben wird nicht mehr dasselbe sein»
Nach ihrem Triumph wird die blutjunge Seles auf einer eigens für sie organisierten Party von US-TV-Star Johnny Carson angesprochen. «Ich war immer ein Fan seiner Show», erinnert sich Seles. «Er sagte mir: ‹Monica, dein Leben wird von nun an nicht mehr dasselbe sein.› Und ich dachte nur: ‹Woah, das ist eine grosse Aussage!›»
Carson sollte recht behalten. Der Hype um Seles rollt gerade erst an. Fast aus dem Nichts ist da eine junge Frau, die Steffi Graf das Wasser reichen kann. Und nicht nur! Seles kann den deutschen Superstar schlagen.
«Standen unter aussergewöhnlichem Druck»
Zusammen mit Jennifer Capriati gilt sie als Mega-Talent, ein junger Superstar. Doch auf ein solches Leben ist sie nicht vorbereitet. Seles erinnert sich: «Wir waren zwei Kinder, die unter aussergewöhnlichem Druck standen. Wir versuchten nur, uns zurechtzufinden und hatten nicht viele Leute, mit denen wir sprechen konnten.»
Doch die oft fröhlich giggelnde und auf dem Platz laut stöhnende Seles überzeugt auf dem Platz mit ihrem unglaublichen Power-Tennis. Dies, während sie nur mit ihren Eltern herumreist. Sie gewinnt danach zwei weitere Roland-Garros-Titel, drei Mal die Australian Open und zwei Mal die US Open.
Depressionen, Essstörungen und Tod des Vaters
Die Erfolgswelle hielt an. Bis zum jenem verhängnisvollen 30. April 1993, als sie in Hamburg auf dem Platz von Günter Parche, einem psychisch gestörten Fan von Steffi Graf, mit einem Messer attackiert und verletzt wird. Die physischen Schmerzen des Messerstichs in den Rücken hielten nicht allzu lange an. Umso schwieriger seien die psychischen Folgen des Attentats gewesen.
Seles litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und danach unter Depressionen. Auch eine langjährige Essstörung folgte aus den dunklen Zeiten von Seles, die 1994 US-Bürgerin wurde. 1996 starb ihr Vater an Krebs, was sie weiter zurückwarf, ehe sie 1996 mit dem Titel bei den Australian Open ihr Comeback krönen konnte.
«Es gab noch kein Internet – ich hatte zu kämpfen»
Schon vor dem schlimmen Attentat hatte Seles grosse Mühe mit dem Ruhm, der sie umgab. Heute sagt sie: «Ich wusste nicht wirklich, was auf mich zukommt. Auf der Strasse rief plötzlich jeder: ‹Schau, das ist sie!› Ich war 16 und das passierte 24 Stunden am Tag! Mit 17 dann hatte ich fast keine Freunde. In der Tennis-Welt sprach man nicht wirklich miteinander. Und ausserhalb des Tennis, wie willst du da Kontakte aufrechterhalten? Es gab noch kein Internet, man hatte bloss ein Hotel-Telefon. Sozial hatte ich echt zu kämpfen.»
Dazu kam: «Ich war ein aufwachsendes Mädchen, mein Körper veränderte sich, ich hatte Teenager-Emotionen, Rebellion, Freude, Depression. Die meisten Menschen haben ja sowieso Druck mit 15 oder 16. Meine Mutter und mein Vater gaben ihr Bestes, aber ich weiss, wie hart es ist, wenn niemand zum reden da ist. Ich dachte mir: ‹Sollte ich das alles als gesunde Person durchstehen, werde ich da sein, um zu reden.›»
«Spreche offen über meine Essstörungen»
Seles, die mittlerweile mit dem 32 Jahre älteren amerikanischen Businessmann Tom Golisano verheiratet ist, betreut heute junge Athletinnen und spricht mit ihnen über mentale Probleme. So freute sie sich auch, als Youngster Coco Gauff zuletzt öffentlich über ihre psychischen Schwierigkeiten als Tennis-Star sprach.
«Ich war sehr glücklich, als Coco davon erzählte – und das in ihrem Alter! Es ist ein sehr wichtiges Thema. Es war grossartig, wie sie kam und das sagte, weil diese Kids schon unter enormem Druck stehen», so Seles. «Ich spreche auch offen mit meinen Athletinnen über die Essstörungen, die ich damals hatte.»
«Nicht so eindimensional»
Seles weiter: «Es ist gut, für junge Spielerinnen zu hören, dass ihr heutiger Superstar solche Gefühle hat. Sie fragen mich: ‹Hattest du auch Druck verspürt, Monica?› Aber vielleicht bin ich auch ein wenig ein Dinosaurier für sie. Wenn es jemand aus ihrer Generation ist, der sowas sagt, ist das sehr wichtig. Früher dachte man, man verliere an Wettkampf-Stärke, wenn man über Gefühle spricht. Ich denke, das ist heute nicht mehr so. Und das wird ein gesünderes Individuum hervorbringen. Das werden sie merken, wenn sie zurücktreten, sie werden nicht so eindimensional sein.»
Heutzutage herrsche eine viel «gesündere Atmosphäre», so Seles. «Spielerinnen und Spieler reisen mit viel grösseren Entouragen. Ich hatte meist nur meinen Vater und einen Trainingspartner, die mit mir reisten. Man muss nicht in der Stille leiden, so wie ich. Ich hatte so lange einen inneren Kampf mit mir.»
«Heute besser ein Kind zu sein»
Natürlich gabs nicht nur Schattenseiten in ihrer Karriere. Sie erinnert sich sehr gerne an «die guten Zeiten». Aber, so Seles: «Ich wünschte mir, sie wären nicht so schnell verflogen. Aber das passiert halt.»
Ihren Schützlingen gibt sie heute wertvolle Tipps auf den Weg: «Ich sage ihnen, dass Beharrlichkeit, Entschlossenheit und Arbeit immer noch hart zu schlagen sind. Ich bin immer noch sehr interessiert daran, was gerade abläuft und was die Trends sind. Ein grosses Ding ist nun, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen viel kürzer ist. Das Tennis wird sich daran anpassen müssen. Social Media macht das Leben von jungen Athleten zusätzlich kompliziert. Aber es ist definitiv besser heute ein Kind zu sein.»