Im Fall von Stan Wawrinka ist der Grat zwischen Genie und Wahnsinn schmal.
Im dritten Jahr in Folge steht er in einem Grand-Slam-Final. Zum dritten Mal gewinnt er es. Zum dritten Mal bezwingt er im Final die amtierende Nummer 1. Genial! Alle anderen 20 (!) Duelle gegen den jeweiligen Weltranglisten-Ersten hat er verloren. Inklusive des gestrigen gegen Murray. Wahnsinn. Es ist diese unerklärliche Ambivalenz, die ihn zum Besten des Rests gemacht hat.
Das Glanzlicht und die dunklen Seiten
«Zeigt Stan sein bestes Spiel, ist er unschlagbar», sagt Murray, seit knapp zwei Wochen die Nummer 1 der Welt. Wawrinka gewinnt 2016 in Chennai, in Dubai – und in Genf erstmals ein Turnier in der Schweiz.
Sein Jahreshöhepunkt ist der Triumph an den US Open. 6,2 Millionen Franken Preisgeld verdient er. Es sind die Glanzlichter seines besten Jahres. Auf der anderen, dunklen Seite stehen vier Startniederlagen – zuletzt in Paris gegen einen Qualifikanten.
Stan ist ein Mann der Extreme. Kommt er in die Schweiz, verkriecht er sich am liebsten in seinen vier Wänden. Auf dem Court zelebriert er das Spiel mit der Menge. Fünf Minuten vor dem Final bei den US Open bricht er in Tränen aus und zittert am ganzen Körper. Auf dem Platz zeigt er keine Schwäche. «Obwohl ich litt, zeigte ich keine Anzeichen des Schmerzes», sagt er nach dem Triumph.
Auch dass er nach dem Sieg nicht nur Freude, sondern auch Leere verspürt. Tränen kullern dem oft reserviert und schüchtern Wirkenden über die Wangen. Noch bevor er die Trophäe in Empfang nimmt, steigt er auf der grössten Tennis-Bühne der Welt in seine Box. Umarmt alle und küsst Freundin Donna Vekic (20). Vorher hat er sein Privatleben vehement verteidigt und zum Tabuthema erklärt.
Welcher Stan steht denn heute auf dem Platz?
Er habe sich weiterentwickelt, sagt Stan. «Ich habe gelernt, mich zu öffnen, neugierig zu sein auf alles und nicht nur in meinem Zimmer zu bleiben.» Er spricht offen über Gefühle und seine verletzliche Seite. Er sagt, er habe manchmal das Gefühl, dass zwei verschiedene Spieler auf dem Platz stünden. Und doch ist es immer Stan Wawrinka, das Teilzeit-Genie. Es hat auch in diesem Jahr wieder zugeschlagen.