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Sportphilosoph Gebauer über den Sport nach der Corona-Krise
«Man muss den Fussball vom hohen Sockel holen»

Sportphilosoph Gunter Gebauer sagt: «Die momentane Krise ist auch eine Chance.» Sein Wunsch: Den Fussball endlich vom hohen Sockel holen.
Publiziert: 29.03.2020 um 00:30 Uhr
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Gebauer über IOC-Boss Thomas Bach: «Er bezieht keine Stellung.»
Foto: keystone-sda.ch
Daniel Leu

Professor Doktor Gebauer, wir möchten mit Ihnen über die Zukunft des Sports reden. Doch lassen Sie uns zuerst ­zurückblicken. Wo stand der Sport vor der Corona-Krise?
Gunter Gebauer: Der Sport hat in den letzten 30 Jahren in der westlichen Welt eine enorme Bedeutung für die Gesellschaft bekommen. Wir sind eine visualisierte Gesellschaft, in der das Äusserliche im Zentrum steht. Ein gesunder, attraktiver Körper ist heute die Norm.

War das früher anders?
Ja, da waren eher Werte des ­Innerlichen wichtig. Das hat sich gewandelt in eine Kultur, die sich stärker im öffentlichen ­Leben abspielt. Das Leitmedium der Gegenwart ist nicht von ­ungefähr das Video.

Welche Rolle spielt dabei der Sport?
Eine wichtige. Er repräsentiert alles, was in der neuen Welt ­dazugekommen ist. Der Sport ist ökonomisch sehr stark ge­worden. Es fliesst sehr viel Geld in den Sport. Vor allem in den Fussball. Die Ablösesummen und Gehälter sind heute zum Teil 50-mal so hoch wie noch vor 30, 40 Jahren. Das widerspiegelt unsere Gesellschaft, in der sehr auf materielle Werte geachtet wird. Autos, Goldkettchen, Statussymbole: Es spielt eine Rolle, dass man Geld hat. Ob man Kultur hat, hingegen keine mehr.

Sind die hohen Fussballer­gehälter schädlich?
Wenn man schaut, was Neymar oder Ronaldo an Lohn erhalten, dann zählen sie zu den Spitzenverdienern unserer Gesellschaft. Das ist unverhältnismässig, denn Fussballstars gehören nicht zu den wichtigsten Personen einer Gesellschaft. Sie sind nur in einer Unterhaltungsindustrie tätig, die keinerlei Werte hinterlässt.

Sie sagten einst: «Spitzensportler sind keine Vorbilder.»
Um ein Vorbild zu sein, reicht es nicht, nur in einem Bereich, zum Beispiel im Toreschiessen, gut zu sein. Es umfasst nicht nur eine Qualifikation, sondern eine Menge menschlicher Werte. Dazu gehören Einstellung, Lebens­führung, Verhaltensweise.

Und da versagen die Spitzensportler?
Bis auf wenige Ausnahmen ­haben die Spitzensportler oft auch ihre hässliche Rückseite. Nehmen wir das Beispiel Franz Beckenbauer. Er war ein grosser Spieler und Trainer, ein freundlicher Mensch. Auf der anderen Seite aber war er auch ein knallharter Geschäftsmann. Dem Sommermärchen-Prozess blieb er wegen eines ärztlichen Attests fern, und dann sah man ihn gut gelaunt an einer Ver­anstaltung.

Als in Deutschland die ersten Bundesliga-Spiele abgesagt wurden, brach das Land beinahe kollektiv in Tränen aus. Warum ist das so?
Viele Fans stellen den Fussball in ihren Lebensmittelpunkt. Die können sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Der Fussball ist ein sozialer Kitt ­unserer Gesellschaft. Er ist ein Nationalspiel, er eint und hält uns zusammen.

Das ist doch schön!
Aber dieser Zusammenhalt ist kein gesicherter, weil es eben nur ein Spiel ist. Als Frankreich 1998 Weltmeister wurde, dachte man, das würde das Land längerfristig einen und eine Integration aller möglich machen. Doch das zerfiel sehr schnell. Schon wenige Jahre später stand der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl der ­Präsidentschaftswahl.

Im Juli hätten in Tokio die Olympischen Sommerspiele stattfinden sollen. Das IOC sträubte sich lange gegen eine Verschiebung.
Ich war sehr unzufrieden und betrübt. IOC-Präsident Thomas Bach gab sich vor der Verlegung in einem TV-Interview sehr ­zurückhaltend und spornte die Sportler an, nicht aufhören zu trainieren. Er versteckte sich hinter der Weltgesundheits­behörde WHO und bezog keine Stellung. Das war zwar diplomatisch klug, aber auch eine Unart eines jeden Diplomaten.

Was hätten Sie ihm geraten?
Er hätte klar Stellung beziehen und sagen sollen: «Im Juli wird das nichts.» Die Gefahr ist viel zu gross. Olympische Spiele ohne Publikum sind widersinnig. Die Völkerverständigung, das ist ihre wichtigste Aufgabe. Deshalb mussten die Spiele um ein Jahr verschoben werden.

Lassen Sie uns jetzt nach ­vorne ­blicken. Was kann der Spitzensport aus dieser Krise für die Zukunft lernen?
Man muss vor allem den Fussball vom hohen Sockel holen.

Wird das passieren?
Sollte diese Krise lange dauern, schmerzlich und verlustreich werden, könnte eine ganz andere Ernsthaftigkeit über uns ­kommen. Dann wäre es vorbei mit der Unbefangenheit und der naiven Lebensfreude. Sollten dann wieder die ersten Spiele stattfinden, würden sich die Leute bestimmt darüber freuen. So wie nach dem Zweiten ­Weltkrieg, als die ersten Partien neben Ruinen ausgetragen wurden. Die ganz grosse Bedeutung wird der Fussball dann aber nicht mehr haben.

Warum nicht?
Weil ein grosser Schatten über dem Fussball liegt. Weil viele Leute möglicherweise Angehörige verloren haben. Dies wird Lücken hinterlassen, traurig ­machen und könnte zu einer eher melancholischen Haltung gegenüber dem Fussball führen.

Ist eine solche Krise auch eine Chance?
Als Philosoph sage ich Ja und hoffe, die Dinge könnten sich ­etwas justieren. Weg vom Geld, das in den Fussball reingeschüttet wurde von Staatsfonds aus Katar, russischen Oligarchen und Fernsehanstalten. Weg von der Bedeutung in der Gesellschaft, die zu schwerwiegend ist. Hin zu den wichtigeren ­Dingen in der Gesellschaft, zu den Einwanderungsproblemen, zur sozialen Ungleichheit.

Letzte, aber schwierige Frage: Wie sieht der Fussball im Frühling 2021 aus?
(Überlegt lange.) Er wird nach wie vor existieren, und die Beachtung wird noch immer gross sein. Ich kann mir aber vorstellen, dass das Interesse weniger ­euphorisch und deutlich gedämpfter sein wird.

Das ist Prof. Dr. Gunter Gebauer


Der 76-jährige Norddeutsche ist Sportphilosoph, Sportwissenschafter und Linguist. Bis 2012 lehrte er an der Freien Universität Berlin. 2018 wurde er mit dem Ethikpreis des Deutschen Olympischen Sportbundes ausgezeichnet. Sein Fussballherz schlägt für den Zweitligisten Holstein Kiel.


Der 76-jährige Norddeutsche ist Sportphilosoph, Sportwissenschafter und Linguist. Bis 2012 lehrte er an der Freien Universität Berlin. 2018 wurde er mit dem Ethikpreis des Deutschen Olympischen Sportbundes ausgezeichnet. Sein Fussballherz schlägt für den Zweitligisten Holstein Kiel.

Mörder-Jagd aus dem Homeoffice?

Editorial von BLICK-Blattmacher Daniel Leu

Ich bin zurzeit irritiert, wenn ich ein Buch lese und darin die Romanfigur Felix einfach so ein Restaurant besucht. Ich bin erstaunt, wenn ich mir den Tatort anschaue und die Kommissare Ballauf und Schenk mir nichts, dir nichts unter Leuten ihrer Arbeit nachgehen.

Die Corona-Krise. Sie hat sich längst in meinem Kopf eingebrannt. Menschenmengen? Wie abwegig! Händeschütteln? Auf gar keinen Fall! Willkommen in der neuen Realität. Diese gilt auch für den Sport. Auf einmal muss er sich ganz anderen Fragen stellen. Wie lassen sich die finanziellen Verluste abfedern? Wann endlich gehts wieder weiter? Wie sieht die Zukunft aus?

Den Blick in die Kristallkugel haben auch wir gewagt. Zusammen mit einem Philosophen, einem Zukunftsforscher und zwei Sportökonomen. Sie alle sind sich einig: Je länger die Krise dauert, desto mehr wird sich der Sport verändern. Philosoph Gunter Gebauer glaubt sogar, dass der Fussball an Bedeutung verlieren wird.

Sind demnach die fetten Jahre tatsächlich vorbei? Die genaue Antwort kennt niemand. Was die Experten aber darüber denken, ist spannend und lehrreich. Bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise bald vorbei ist und es nicht so weit kommen wird, dass die Kommissare Ballauf und Schenk in einem ihrer nächsten Fälle den Mörder vom Homeoffice aus überführen müssen.

Editorial von BLICK-Blattmacher Daniel Leu

Ich bin zurzeit irritiert, wenn ich ein Buch lese und darin die Romanfigur Felix einfach so ein Restaurant besucht. Ich bin erstaunt, wenn ich mir den Tatort anschaue und die Kommissare Ballauf und Schenk mir nichts, dir nichts unter Leuten ihrer Arbeit nachgehen.

Die Corona-Krise. Sie hat sich längst in meinem Kopf eingebrannt. Menschenmengen? Wie abwegig! Händeschütteln? Auf gar keinen Fall! Willkommen in der neuen Realität. Diese gilt auch für den Sport. Auf einmal muss er sich ganz anderen Fragen stellen. Wie lassen sich die finanziellen Verluste abfedern? Wann endlich gehts wieder weiter? Wie sieht die Zukunft aus?

Den Blick in die Kristallkugel haben auch wir gewagt. Zusammen mit einem Philosophen, einem Zukunftsforscher und zwei Sportökonomen. Sie alle sind sich einig: Je länger die Krise dauert, desto mehr wird sich der Sport verändern. Philosoph Gunter Gebauer glaubt sogar, dass der Fussball an Bedeutung verlieren wird.

Sind demnach die fetten Jahre tatsächlich vorbei? Die genaue Antwort kennt niemand. Was die Experten aber darüber denken, ist spannend und lehrreich. Bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise bald vorbei ist und es nicht so weit kommen wird, dass die Kommissare Ballauf und Schenk in einem ihrer nächsten Fälle den Mörder vom Homeoffice aus überführen müssen.

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