Blick: Marco Odermatt, kann man diesen Riesen-Hattrick am Chuenisbärgli mit Ihren Olympia- und WM-Goldmedaillen gleichsetzen?
Marco Odermatt: Wenn man als Schweizer in Adelboden vor diesen grandiosen Fans bei dieser einzigartigen Stimmung gewinnt, ist das auf jeden Fall spezieller als ein Sieg an einem andern Ort. Es ist unbeschreiblich schön, wenn man die Begeisterung von all den Zuschauern spüren darf.
Sie haben am Chuenisbärgli ja nicht nur schöne Momente erlebt. Wann war der Frust am grössten?
2018 hat mich brutal angeschissen, weil ich als 31. die Qualifikation für den zweiten Lauf haarscharf verpasste. Ich habe den zweiten Lauf damals mit meinen Fans auf der Tribüne geschaut. Dasselbe habe ich ein Jahr später getan, nachdem ich mich ein paar Wochen zuvor in Alta Badia am Meniskus verletzt habe.
Würden Sie auch heute noch nach einem Out im ersten Durchgang die Entscheidung mit Ihren Fans auf der Tribüne anschauen?
Eher weniger. Aber damals war es halt so, dass ich noch jedes Mitglied von meinem Fanklub persönlich gekannt habe. Das waren alles Leute, mit denen ich auch im privaten Rahmen gerne eine Sportübertragung angeschaut habe.
Obwohl Ihr Fanklub mittlerweile so viele Mitglieder aufweist, die Sie persönlich bei weitem nicht mehr alle kennen, sind Sie im letzten Jahr nach Ihrem Riesen-Sieg am Chuenisbärgli mit dem Fanbus nach Hause gefahren. Es dürfte Supporter gegeben haben, die schier durchgedreht sind, als Sie den Car betreten haben, oder?
Weil die wenigsten Fans 0,0 Promille hatten, haben einige bereits in ihrem Sitz ein Nickerchen gemacht, als ich um 20 Uhr in den Bus gestiegen bin. Und weil vor und hinter mir gute Kollegen von mir gesessen sind, war ich sowieso bestens abgeschirmt.
Warum sind Sie damals nicht selbständig aus Adelboden abgereist?
Weil ich zuvor mit dem Flieger vom Trainingscamp auf der Reiteralm ins Berner Oberland gereist bin, war mein Auto nicht in Adelboden. Somit war der Fanbus für mich zum einen die einfachste Variante, um nach Hause zu kommen. Zudem war es für mich auch die beste Möglichkeit, um mit den Fans auf den Sieg anzustossen. Bevor wir die Nidwaldner Grenze überquerten, haben wir in meiner Stammbar in Luzern richtig schön Party gemacht.
Welches ist Ihr Stammlokal?
Der Jodlerwirt, welcher von meinem Beckenrieder Kumpel Simon geführt wird. Das ist ein prächtiger Schlager-Tempel, in dem ich meine urchige Seite wunderbar ausleben kann.
Haben Sie hier auch Ihren heftigsten Kater aufgelesen?
Nein, den hatte ich 2018 anlässlich vom Weltcup-Final in Are. Ich durfte dort nur starten, weil ich in dieser Saison mehrfacher Junioren-Weltmeister geworden bin. Zu meiner eigenen Überraschung bin ich dort in der Abfahrt und im Super-G in die Top 15 gefahren und habe somit meine ersten Speed-Weltcuppunkte geholt. Logisch, dass ich diese Premiere bei der legendären Audi-Party kräftig gefeiert habe. Ich war damals in einem Appartement mit Daniel Yule einquartiert, und der hat nach meiner Heimkehr von dieser Party kaum noch ein Auge zugebracht, weil ich öfters auf die Toilette musste. Zwei Tage später habe ich mich trotzdem auch im Riesenslalom in den Top 15 klassiert.
Wenn Sie am selben Abend von Marco Schwarz, Aleksander Aamodt Kilde und Henrik Kristoffersen auf ein Bier eingeladen werden – mit wem stossen Sie am liebsten an?
Mit Kilde. Von diesem Trio hatte ich mit Aleksander bis jetzt am meisten zu tun, zu ihm habe ich einige Sympathien.
Was ist mit Kristoffersen?
Privat habe ich Henrik bis jetzt nicht wirklich kennengelernt. Und so wie er sich als Rennfahrer verhält, bekommt er von mir sicher nicht die Note 10.
Bei einigen Vertretern im Ski-Zirkus hat Kristoffersen in diesem Winter Punkte gesammelt, weil er beim Slalom in Gurgl den Klima-Aktivisten Gewalt angedroht hat. Was sagen Sie dazu?
Man kann sich darüber streiten, ob die Androhung von Gewalt in dieser Situation das Richtige war. Aber ich habe es grundsätzlich gut gefunden, dass er ein Zeichen gegen die Aktion dieser Gruppierung gesetzt hat. Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen. Fakt ist: Wir Skifahrer sind direkt vom Klimawandel betroffen, es wird für uns immer schwieriger, im Sommer auf den Gletschern ein ordentliches Schnee-Training zu absolvieren. Aber es bringt unsere Umwelt rein gar nichts, wenn ein paar Joggel mit oranger Farbe den Zielraum von einem Weltcuprennen stürmen und dadurch den Wettkampf auf unfaire Weise beeinflussen, weil nach dieser Unterbrechung die Bedingungen für die restlichen Starter schlechter waren.
Sie wurden im letzten Frühling von einem Vertreter von Greenpeace attackiert, weil Sie die Klima-Petition, welche Österreichs Speed-Spezialist Julian Schütter an die FIS übermittelt hat, nicht unterschrieben haben. Haben Sie diese Entscheidung jemals bereut?
Nein. Wenn ich meine Unterschrift auf dieses Papier gesetzt hätte, dann hätte ich mich zu einem gewissen Punkt unglaubwürdig gemacht, weil ich als Skirennfahrer den Forderungen in diesem Brief nicht zu 100 Prozent gerecht werden kann. Es ist ganz klar: Jede Branche und jeder Mensch sollte sich bewusst sein, dass er sein bestmögliches für die Umwelt tun muss. Aber der Ski-Zirkus stellt in dieser Angelegenheit definitiv nicht das grösste Problem dar. Alleine in den USA werden im Durchschnitt pro Tag 50'000 Flüge durchgeführt. Der Alpine-Weltcup fliegt pro Saison zweimal nach Übersee. Und weil unsere Serie Weltcup und nicht Europacup heisst, ist es ja auch wichtig, dass wir auf anderen Kontinenten Rennen bestreiten.
Würde es nicht ausreichen, wenn man nur einmal pro Saison für Weltcuprennen nach Nordamerika jettet?
Ich sehe diesbezüglich wirklich kein grosses Problem. Im November fliegen wir für die Speed-Rennen nach Kanada und USA, im Februar für die Riesen- und Slaloms in Aspen und Palisades Tahoe. Dabei gibt es vielleicht zehn Athleten, welche wie ich die Technik- und die Speed-Events bestreiten. Der grösste Teil der Skirennfahrer fliegt nur einmal im Jahr nach Nordamerika. Das ist sehr wenig, wenn man das mit anderen Weltsportarten wie Fussball oder der Formel 1 vergleicht. CEOs von Grosskonzernen absolvieren jede Woche drei bis vier Flüge.
Vor ein paar Jahren haben Sie einem fremden Mann den letzten Lebenswunsch erfüllt, indem Sie ihn am Sterbebett besucht haben. Wie kam es dazu?
Die Familie dieses Mannes ist mit diesem Wunsch zu meinem Manager Michael Schiendorfer herangetreten. Weil es im Sommer war und ich am nächsten Tag keine sportliche Höchstleistung abliefern musste, habe ich zugesagt. Ich habe ein Video mit ein paar Rennbildern von mir zusammengeschnitten und bin dann mit meinem Kumpel Gianluca Amstutz ins Spital gefahren. Was ich dort erlebt habe, ist mir sehr viel heftiger eingefahren, als ich gedacht habe.
Inwiefern?
Es war nicht so, dass ich mich mit diesem Mann noch einmal auf ein Sofa setzen und normal reden konnte. Er ist wirklich an unzähligen Schläuchen angehängt auf dem Sterbebett gelegen. Und obwohl ich gespürt habe, dass ich mit meinem Besuch diesem Mann und seinen Angehörigen eine grosse Freude gemacht habe, weiss ich heute nicht, ob ich so etwas noch einmal tun würde.
Es gibt in Ihrem Umfeld viele Menschen, die Sie als besonders sozialen Menschen bezeichnen. Dabei heisst es sonst immer, dass ein Champion auch ein bisschen ein Sauhund sein muss.
Ich selber würde mich nie als besonders sozial bezeichnen. Selbstverständlich frage ich in meinem Umfeld immer nach, wer von mir Bekleidung oder anderes Ski-Material benötigt. Und es ist mir wichtig, dass es im Ski-Zirkus auch meinen Trainingskollegen Gino Caviezel und Justin Murisier richtig gut geht. Aber als besonders sozial sehe ich mich deshalb nicht.
Aber noch einmal sei die Frage erlaubt: Wo ist der Sauhund im überragenden Ski-Champion Odermatt?
Ich weiss, dass ich ein sehr schlechter Verlierer bin. Aber weil ich in den letzten Jahren fast ausschliesslich Erfolge gefeiert habe, weiss ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn mir in den nächsten fünf Rennen immer ein Teamkollege den Rang ablaufen würde. Justin und Gino sind auch diesbezüglich sensationell, die feiern auch dann mit mir mit, wenn es ihnen im Rennen nicht so gut gelaufen ist.
Mit Caviezel und Murisier teilen Sie sich im Ski-Zirkus oft ein Appartement. Welches war das mieseste Quartier, in dem Sie bis anhin gewohnt haben?
Ganz weit unten war das Appartement, das wir im letzten Winter nach unserer Ankunft in Aspen bezogen haben – das war wirklich eine Abbruchbude. Dank einer zufälligen Begegnung haben wir ein paar Tage später in Aspen aber auch das luxuriöseste Quartier in unserer Weltcup-Laufbahn bewohnt.
Wie kam es zu diesem Upgrade?
Wir sind in Aspen einem Mann begegnet, der von einem Kollegen erzählt hat, der am Sonnenhang garantiert noch ein paar Zimmer für uns frei hätte. Er sagte uns noch, dass dieser Kollege wie wir ein Schweizer sei. Als Justin, Gino und ich am Tag danach im Haus dieses Schweizers eingezogen sind, hat uns schier der Schlag getroffen. Es war eine Villa – mit drei Swimmingpools, zwei Bars, Kino und einem Fitnessraum. Wir drei haben dann drei Tage allein in diesem Traumhaus gewohnt. Dann ist der Besitzer zurückgekehrt. Und beim Eigentümer von dieser Traum-Villa handelt es sich um Gunnar Sachs, dem Sohn vom legendären Gunter Sachs, der in Gstaad und St. Moritz gelebt hat. Gunnar hat zwei Kinder, die ebenfalls Skirennen fahren. Ihnen konnten wir mit Rennanzügen und Startnummern eine Freude machen. Es ist geplant, dass wir heuer während der Aspen-Rennen erneut bei Gunnar Sachs residieren dürfen.