Michelle Gisin, wie fühlen Sie sich als Nachfolgerin von Vreni Schneider?
Michelle Gisin: Nachfolgerin von Vreni Schneider? Nein, so darf ich mich nicht nennen. Vreni ist eine Legende des Schweizer Sports, die Grösste.
Aber?
Gisin: In allen Disziplinen in die besten 10 gefahren zu sein – das überwältigt mich, wenn ich ehrlich bin. Es gab und gibt viele geniale Schweizer Skirennfahrerinnen im letzten Vierteljahrhundert und es freut mich sehr, die Erste zu sein, der dieses Allrounder-Kunststück wieder gelingt.
Vreni, Sie schafften es nicht nur in allen Disziplinen in die Top 10, sondern auch aufs Podest...
Vreni Schneider: Im Super-G nicht.
Doch, zwei Mal sogar. 1986 in Val d’Isère und Puy St. Vincent.
Schneider: Wirklich? Das wusste ich nicht gar mehr! Das waren sicher nicht mehr als schnelle Riesenslaloms. Im Ernst: Auch wenn mir in Speed-Rennen einige Erfolge gelangen, hatte ich das hohe Tempo nie in mir. Ich war eine Technikerin.
Das ist bei Ihnen anders, Michelle.
Gisin: Ich begann mit Slalom. Aber als Schwester von Dominique und Marc, die beide die hohen Geschwindigkeiten im Blut haben, war mein Weg wahrscheinlich doch ein wenig vorgezeichnet. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass es mich so sehr auf die schnellen Disziplinen ziehen würde.
Machen Sie es jetzt Vreni nach und fahren in allen Disziplinen aufs Podest?
Das wäre wunderbar. Die Abfahrt, den Super-G und die Kombi habe ich immerhin schon im Sack (schmunzelt).
Vreni und Michelle, wann begegneten Sie sich erstmals?
Gisin: Das war im März 2012, ich war 18 Jahre alt und kam von einem Kreuzbandriss zurück. Es gab ein FIS-Rennen in Vrenis Heimat Elm. Du bist dann auf mich zugekommen, Vreni. Ich hätte mich nicht getraut. Aber ich weiss noch, dass es ein sehr angenehmes Gespräch war.
Schneider: Genau, im Restaurant Ämpächli.
Gisin: Danach blieben wir immer in Kontakt, Vreni schrieb mir immer wieder – um mir zu gratulieren oder mich aufzumuntern. Das habe ich sehr geschätzt.
Sie beide wagten in Ihren Karrieren den Schritt zu den Speed-Teams. Wie wurden Sie dort aufgenommen?
Schneider: Ich habe den Mut der Abfahrerinnen bewundert. Eigentlich fuhr ich ja nur solche Rennen, um mich für die Kombis zu rüsten. Ich war also wenig geübt. Diese Sprünge, dieses Tempo – mir ist das Herz oft in die Hose gerutscht. Aber ich erinnere mich: auch die Abfahrerinnen wurden bleich, wenn es extrem steil und schnell wurde. Ausser Michela Figini – sie hat immer gelächelt (schmunzelt).
Gisin: Ich wurde in der Speed-Gruppe von Anfang an sehr gut aufgenommen. Und ich erkannte sofort, dass mir die Stimmung bei Trainings und vor Rennen extrem entspricht – da ist alles ruhiger, respektvoller, fast schon tiefenentspannt.
Wie meinen Sie das?
Gisin: Im Slalom herrscht bei der Besichtigung Anarchie, da werden die Ellenbogen ausgefahren. Bei Abfahrten ist der Respekt grösser. Wenn ich winke, wird auch mal Platz gemacht, damit ich die Ideallinie anschauen kann.
Schneider: Zu meiner Zeit herrschte auch im Slalom eine klare Hierarchie – das ist heute wohl ein wenig anders. Nur schon im Schweizer Team war klar, wer zuoberst stand und wer eher unten. Als ich beispielsweise in den Weltcup kam, war Erika Hess die klare Leaderin.
Sie schauten zu ihr auf?
Schneider: Auf jeden Fall. Ich erinnere mich an ein Rennen in Kranjska Gora. Die Piste war blankes Eis, doch Hess fuhr wie im Pulverschnee. Das vergesse ich nie.
Michelle wurde in Pyeongchang Olympiasiegerin. Wie haben Sie das Rennen erlebt, Vreni?
Schneider: Wenn ich an den Slalom-Lauf denke, bekomme ich Hühnerhaut. Diese Anspannung, dieser Druck – ich habe extrem mitgefiebert. Gold! Das war gigantisch.
Gisin: So etwas zu hören, ist fast surreal. Vreni war für meine Schwester Dominique ein Riesenvorbild. Leider habe ich deine Karriere nicht verfolgen können, Vreni. Als du aufgehört hast, war ich eineinhalb Jahre alt.
Schneider: Das macht nichts. Wir teilen die gleiche Leidenschaft. Ich liebe es, dir zuzuschauen.
Michelle, nach der Kombi-Abfahrt wussten sie: Olympia-Gold ist möglich.
Gisin: Ich war angespannt, klar – ich wusste schliesslich um meine Chance...
Hat Ihnen ein Startritual gegen die Nervosität geholfen?
Gisin: Mit den Ritualen ist das so eine Sache. Früher dachte ich, dass ich hunderte benötige. Mit der Zeit habe ich gemerkt: Es ist total egal, wie ich mich vor dem Start fühle. Wenn ich gut in Form bin, klappt es schon.
Schneider: Ich war vor den Rennen ganz anders, die Nervosität setzte mir zu. Oft musste ich gar erbrechen – zum Glück gab es früher nicht so viele Kameras wie heute, die das hätten einfangen können.
Ein Beispiel?
Bei der WM 1993 in Morioka ging es mir nicht gut. Ich litt an den Folgen einer Diskushernie und hatte starke Rückenschmerzen – das wussten nur die wenigsten, ich wollte auch keine Ausreden suchen oder Mitleid erzeugen.
Wie ging es weiter?
Ich fuhr beim Slalom miserabel ein. Da sagte mir ein Trainer: «Komm, wir trinken einen Schnaps!» Aber das sollten Sie nicht in der Zeitung schreiben...
Gisin: Doch, das finde ich sensationell (lacht)!
Schneider: Stimmt, es ist je die Wahrheit. Es waren ja nur 3-4 Schlückchen, ein japanischer Schnaps. Es half nichts, ich fiel aus. Der Rücken plagt mich extrem. Ich hätte mich in diesem Moment verziehen können, aber ich ging zu den Journalisten und erzählte, was Sache ist.
Gisin: Das ist wahre Grösse – zu erkennen, wenn es nicht geht und das zu sagen. Die Leute haben nicht nur wegen deinen Erfolgen, sondern auch aufgrund deiner Ehrlichkeit so sehr zu dir aufgeschaut.
Michelle, welchen von Vrenis Erfolgen würden Sie gerne einmal feiern?
Gisin: Ganz klar: Den Gesamtweltcup.
Hilfreich wären dabei so starke zweite Läufe, wie sie Vreni immer wieder. Haben Sie Michelle einen Tipp, Vreni?
Schneider: Den ersten Durchgang verpatzte ich oft. Dann ging ich ins Restaurant, ass meine Dörrfrüchte, ging raus und suchte das gute Gefühlt auf den Ski. Und dann sagte ich mir: Jetzt machst du einen Bomben-Lauf! Ich dachte dabei gar nicht mehr an das aktuelle, sondern schon an das nächste Rennen.
Gisin: Clever. Du hast dich nicht mehr auf die Aktualität fixiert.
Schneider: Genau. Ich hatte nichts mehr zu verlieren und habe alles aus mir herausgeholt. Im Ziel war ich oft Erste. Und den folgenden Fahrerinnen begannen die Knie zu zittern (schmunzelt). Aber man sollte sowieso nie vergessen: Auch wenn Skifahren eine riesige Leidenschaft ist – es gibt auch anderes im Leben. Für das grosse Glück braucht es nicht zwingend Siege.
Sie fahren fast alle Rennen, Michelle. Ist das Mammut-Programm Ihre grösste Herausforderung?
Gisin: Ich bin gerne unterwegs und liebe es, neue Sachen zu sehen. Und ich liebe es, Rennen zu fahren. Aber so lange weg von zuhause zu sein, ist schon hart. Da frage ich mich schon auch, warum ich das eigentlich mache. Anderseits dauert meine Karriere nicht ewig, nach 30 werde ich wohl nicht mehr dabei sein. Dann habe ich mehr Zeit für Freunde und Familie.
Schneider: Du wirst es geniessen. Die Umstellung nach dem Karriere-Ende ist riesig, aber es gibt immer neue Herausforderungen. Ich mochte die Reiserei als Sportlerin ebenfalls. Aber mein Leben änderte sich nach dem Rücktritt stark – auch, weil ich Mutter wurde. In den letzten gut 20 Jahren bin ich beispielsweise nie mehr geflogen.
Gisin: Wirklich?
Schneider: Mein Mann hat Angst vor dem Fliegen. Aber seit meine Kinder da sind, bin ich sowieso zur «Gluggere» geworden (schmunzelt). Ich habe viel von der Welt gesehen, aber zuhause ist es am schönsten.